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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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raffiniert geknüpft, vermutlich von der Äbtissin selbst. Ich ließ das Fläschchen in meine Tasche gleiten. Dann gab ich mir alle Mühe, die Schnur wieder so zu verknoten, wie sie es am Anfang gewesen war.
    Ich stieg durch das Fenster, vor dem Tilde auf mich
    wartete. Als wir wieder im Stall waren, erzählte ich ihr, was ich getan hatte. »Was?« rief sie entsetzt. »Du hast die heilige Reliquie gestohlen? Das Fläschchen mit der Milch der Heiligen Jungfrau?«
    »Still. Niemand außer dir wird es erfahren. Bis zum
    Morgen ist das Leder wieder trocken und fest. Wenn Domina Aetherea aufwacht und den Verlust bemerkt, den Knoten
    aber unversehrt vorfindet, wird sie annehmen, daß das
    Fläschchen von göttlicher Hand entfernt wurde. Sie wird denken, daß die Heilige Jungfrau selbst gekommen ist, um ihre Milch zurückzuholen, und daraus vielleicht schließen, daß sie sich bessern und weniger grausam sein sollte.
    Vielleicht bleiben Schwester Deidamia dann weitere Qualen erspart.«
    »Hoffentlich«, sagte Tilde. »Was willst du mit der Reliquie tun?«
    »Ich weiß es noch nicht. Ich besitze nicht viel. Vielleicht kann sie mir irgendwann nützen.«
    »Hoffentlich«, sagte Tilde noch einmal, und sie klang
    aufrichtig. Rasch beugte ich mich vor und drückte einen Kuß auf ihre kleine Stupsnase. Sie machte einen Satz zurück, als hätte ich sie vergewaltigen wollen, doch dann kicherte sie aufgeregt, und wir nahmen in Freundschaft voneinander
    Abschied.
    Ich habe bereits erwähnt, daß ich aus Balsan Hrinkhen
    zwei Dinge mitnahm, die mir nicht gehörten: den gefangenen Adler und das gestohlene Fläschchen. Aber auch jetzt
    verließ ich das Tal noch nicht. Mir blieb noch eine
    Verpflichtung, die ich mir selbst auferlegt hatte. In derselben Nacht stahl ich mich in den Küchengarten von St. Damian, zog einige Winterrüben als Proviant und stieg auf einen Baum, dessen Äste einen Teil des Gartens überragten. Ich kletterte unbeholfen, denn ich trug den Käfig, in dem sich mein Adler befand.
    Als Domina Aetherea mich nach St. Damian
    zurückbrachte, hatte sie einen der Mönche gebeten, in
    einem Nebengebäude auf mich aufzupassen. Von diesem
    erfuhr ich, welche Arbeiten Bruder Petrus nun ausführte: Er mußte die Felder und Gärten der Abtei mit Mist düngen. Ich wußte also, daß Bruder Petrus früher oder später in den Küchengarten kommen würde, und ich war vorbereitet,
    notfalls viele Tage und Nächte lang darauf zu warten.
    Wie sich herausstellte, mußte ich nur noch den Rest
    dieser Nacht, den darauffolgenden Tag und die
    darauffolgende Nacht frierend auf meinem Baum ausharren.
    In dieser letzten Nacht stockte ich meinen Vorrat an Rüben auf und fand sogar ein paar Regenwürmer für den Adler. Er fraß sie, freilich ohne besonderes Vergnügen. Dann hörte ich zu, wie die Brüder im Kloster zur Frühmette sangen und den Sonnenaufgang begrüßten. Wenig später, die Mönche
    hatten inzwischen ihre Morgenmahlzeit eingenommen,
    öffneten sich die Türen der Abtei. Zwei davon lagen in meinem Blickfeld, und ich beobachtete, wie die Brüder zur Arbeit auf den Feldern herausströmten.
    Dann kam Petrus. Er ging in einen Schuppen, kam mit
    einer Mistgabel und einem Eimer voller Mist wieder heraus und trug beides geradewegs zum Garten zwischen der
    Küche und dem Baum, auf dem ich saß. Er setzte den
    schweren Eimer ab, dessen Inhalt in der Sonne dampfte, und begann träge, den Mist auf die Gemüsebeete zu
    verteilen.
    Ich wartete, bis er fast genau unter mir war. Dann streckte ich langsam und ruhig den Arm in den Käfig des Adlers und stieß mit dem Handgelenk vorsichtig gegen dessen Beine.
    Der Vogel setzte sich daraufhin auf meinen Arm. Ich holte ihn aus dem Käfig, nahm ihm die Augenklappe ab und
    wartete einen Augenblick. Bruder
    Petrus hatte angefangen zu schwitzen, er hatte deshalb die Kapuze zurückgestreift. Da die Arbeit ihn zwang, sich zu bücken, sahen wir nur seinen Hinterkopf. Ich wartete, bis er aufrecht stand und sich streckte. Seine mit Fett eingeriebene weiße, von einem gräulichroten Haarkranz umgebene
    Tonsur war ein fast wirklichkeitsgetreues Abbild des
    schleimigen fettglänzenden Eies in dem Nest aus
    rotbraunem Moos, auf das ich meinen Adler in den letzten Wochen abgerichtet hatte. Ich zeigte auf Petrus und
    flüsterte: »Släit!«
    Mein Arm machte einen Ruck, als der Adler sich abstieß, und der Ast, auf dem ich saß, schwankte. Petrus hörte
    vermutlich das Rascheln der Blätter oder die sausenden

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