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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Schwingen des Adlers, der schnell an Höhe gewann, denn er sah sich erstaunt um. Doch er sah nicht nach oben, und obwohl er den Kopf hin und her drehte, muß dieser aus der Sicht des Adlers immer noch wie ein Ei in einem Nest
    ausgesehen haben, denn jetzt setzte der Vogel zum
    Sturzflug an.
    Fast senkrecht und mit unglaublicher Geschwindigkeit
    schoß er nach unten. Der von den Strahlen der
    Morgensonne auf die Erde geworfene Schatten des
    Raubvogels wanderte über Felsen, flackerte über die an das Kloster angrenzenden Felder und stürzte schließlich
    ungestüm durch den Garten unter mir. Im nächsten Bruchteil einer Sekunde verschmolzen Juikabloth, Schatten und Ziel miteinander.
    Mit einem dumpfen Schlag traf der Adler auf Petrus' Kopf auf und grub seine Krallen tief in Haare und Kopfhaut.
    Petrus stieß einen markerschütternden Schrei aus. Dann war er still. Mein Juikabloth hieb mit seinem furchtbaren krummen Schnabel auf die weiße Glatze des Mönchs ein,
    genau in der Mitte der Tonsur. Das weiße Ei färbte sich rot.
    Stumm und bewegungslos und mit dem Gesicht nach unten
    lag Petrus zwischen zwei Reihen hochgeschossenen Kohls.
    Wie besessen stieß der Vogel immer wieder mit dem
    Schnabel auf das Ei herunter, das eine so unerwartet harte Schale hatte.
    Zwei Mönche, die den Schrei gehört hatten, eilten um die Ecke und sahen sich im Garten um, aber sie entdeckten
    Petrus nicht, der hingestreckt zwischen den fleischigen Blättern des Kohls lag. »Juikabloth!« rief ich leise, und gehorsam stieg der Adler auf und ließ sich auf einem Ast neben mir nieder. Die Federn an seinem Kopf starrten vor Blut. »Ach«, sagte einer der beiden Mönche, »es war nur ein Hase oder eine Wühlmaus, die der Adler gefangen hat.«
    Und sie kehrten zu ihrer Arbeit zurück.
    Ich setzte den Juikabloth auf meine Schulter, nahm den Weidenkäfig unter den Arm und kletterte vom Baum. Ich
    brauchte den Käfig eigentlich nicht mehr, doch ich wollte keine verdächtigen Spuren hinterlassen, deshalb entfernte ich mich ein gutes Stück vom Kloster, bevor ich ihn an einem bestimmten Ort im Unterholz versteckte. Dort hatte ich auch das Bündel meiner wenigen Habseligkeiten gelassen, das ich nun wieder mitnahm.
    Die Zeit des Abschieds war gekommen. Ich war aus dem
    Paradies vertrieben worden wie einst Adam und Eva.
    Aufgrund meiner vermutlich gotischen Abstammung hatte
    die katholische christliche Kirche mir von Anfang an
    mißtraut, aber jetzt, als Mannamawi, war ich für sie erst recht ein Schandfleck. Meine Doppelnatur war an sich schon ein Verbrechen und eine Sünde, obwohl ich nichts dafür konnte, und nun war ich außerdem innerhalb zweier Nächte zum Dieb einer Reliquie und zum Mörder geworden. Zu
    welcher dieser beiden Sünden hatte mich der Adam, zu
    welcher die Eva in mir getrieben?
    Egal. Die Zeit des Abschieds war gekommen, und ich
    würde gehen, um als Gote zu leben - und als Arianer, wenn die Arianer mit einem Zwitterwesen, wie ich es war, mehr Erbarmen hatten als die katholischen Christen. Sobald ich also von Balsan Hrinkhen auf die Hochebene kam, wandte ich mich nach links, nach Nordosten. Dort lag das Land, das die zivilisierten Menschen »Barbaricum« nannten, und dort hausten angeblich die Stämme der Ostgoten tief in
    gefährlichen Wäldern.
    Wyrd
    1
    Ich kam von Balsan Hrinkhen in eine Welt, deren
    Schicksal so unbestimmt war wie mein eigenes: die Welt des zerfallenden Römischen Reiches. Damals ahnte ich noch
    nicht, daß ich auf meinen Wanderungen den Menschen
    treffen sollte, der dazu bestimmt war, dem Römischen Reich in Europa Einheit und Frieden, Gesetz und Ordnung zu
    bringen. Wie hätte ich es auch wissen können? Niemand im ganzen Reich wußte damals von ihm, denn Theoderich, der eines Tages Theoderich der Große genannt werden würde, war zu dieser Zeit - wie Thorn Mannamawi - noch ein Kind.
    Was Tugend und Unschuld anbelangt, so war Theoderich
    in diesem Alter vermutlich weitaus kindlicher als ich, denn ich hatte während der vergangenen Monate und Jahre alles kennengelernt, was einem Erwachsenen, der noch dazu
    beide Geschlechter in sich vereinigt, in dieser Hinsicht widerfahren kann: die mannigfaltigen Freuden der Liebe, ihre gelegentlichen Schmerzen und ihre manchmal bitteren Folgen.
    An dieser Stelle sei erwähnt, daß ich, als ich dann ganz erwachsen war, wenigstens von einigen Nachteilen
    verschont blieb, die dem jeweiligen Geschlecht anhaften -
    wie es der Arzt Bruder Chrysogonus vorausgesagt hatte. Ich

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