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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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weiterkreischte, machte ich mir meine eigenen Gedanken. Mir war jetzt klargeworden,
    warum sich die gotische Muttersprache der Frauen mit dem Skythischen vermischt hatte. Und soviel ich wußte, war die skythische Sprache, die der Stamm jetzt als die alte Sprache bezeichnete, tatsächlich älter als die gotische. Die Frauen waren also gleichzeitig gotischer und skythischer Herkunft, und die Männer, derer sie sich zur Fortpflanzung ihres Stammes bedient hatten, hatten sicherlich den
    unterschiedlichsten Völkern angehört. Ich war sehr
    erleichtert, daß in den Adern dieser schrecklichen Frauen nicht ausschließlich gotisches Blut floß. Sie waren also keine reinrassigen ›Stammesschwestern‹ von mir.
    Morghs Gesänge enthielten zwar keine direkten Aussagen darüber, warum diese Frauen nicht nur dem Geschlechtsakt völlig gleichgültig gegenüberstanden, sondern auch für Weiblichkeit und Schönheit völlig unempfänglich waren, ich wußte jedoch aus alten Geschichtsbüchern, daß die einst gutaussehenden, begabten und tatkräftigen Skythen sich mit der Zeit zu einem fetten, schwächlichen und apathischen Volk entwickelt hatten. Dieser allmähliche Verlust an
    Lebenskraft war mit einer zunehmenden Unfruchtbarkeit
    einhergegangen, die angeblich zum traurigen Niedergang der Skythen geführt haben soll.
    Die Waliskarja hatten sich offensichtlich also nicht bewußt dafür entschieden, fett, häßlich, dumm und geschlechtslos zu sein, sondern sie hatten diese Eigenschaften von den Skythen geerbt, nachdem sie sich mit diesen vermischt
    hatten. Mir fiel wieder ein, daß ich vor langer Zeit einmal das skythische Wort Enarios gehört hatte. Es bedeutete ›Mann-Frau‹, und ich hatte es mir damals gemerkt, weil ich
    annahm, es sei der skythische Ausdruck für Mannamawi.
    Nun schien es mir eher wahrscheinlich, daß mit diesem Wort lediglich unweibliche Frauen bezeichnet wurden. Es war offensichtlich die skythische Übersetzung für Waliskari.
    Als ich Lviv verließ, um die verräterische Genoveva zu verfolgen, hatte ich geglaubt, dadurch meine historische Mission auf leichtfertige Weise zu vernachlässigen.
    Stattdessen hatte sich dieser Umweg als sehr lohnend
    erwiesen, denn ich hatte hier Dinge in Erfahrung gebracht, die mir sonst vielleicht völlig unbekannt geblieben wären.
    Ach, ich machte mir nicht vor, hier die einzige Quelle für all die jahrhundertealten Legenden über Amazonenstämme
    ausfindig gemacht zu haben, denn als die Griechen vor
    mehreren hundert Jahren über Amazonen schrieben, gab es die Waliskarja ja noch nicht. Aber ich war doch sehr
    zufrieden, nun zumindest beweisen zu können, daß auch die Goten ihren Beitrag zur Amazonenlegende geleistet haben.
    10
    Genoveva traf erst drei Tage später bei den Waliskarja ein. Ich tat inzwischen so, als bemühte ich mich nach
    Kräften, eine möglichst schreckliche Waliskari zu werden, und lernte dabei die Gebräuche des Stammes noch besser kennen. Als ich gerade mit Modar Lubo und ein paar
    anderen Frauen auf Jagd war, kam plötzlich Ghashang von Osten her auf uns zugeritten. Sie besprach sich kurz mit unserer Mutter, die ein gutes Stück vor mir ritt. Die beiden warteten, bis ich sie eingeholt hatte, dann sagte Modar Lubo zu mir: »Die Kutriguri wissen jetzt, daß wir wieder einen Mann für eine Befruchtung benötigen. Manchmal brauchen sie etwas länger, um zu entscheiden, wen sie schicken
    werden, denn diese wilden Böcke reißen sich natürlich alle um eine solche Ehre. Der Auserwählte wird jedoch in ein oder zwei Tagen hier eintreffen.«
    Alles andere als dankbar murmelte ich: »Mamnun.« Das
    war das skythische Wort für »thags izvis«.
    »Und ich befehle dir, dein möglichstes zu tun, um von ihm schwanger zu werden, Dohhtar Veleda!« fuhr sie fort. »Du sollst uns für unsere Gastfreundschaft entlohnen, indem du dich als fruchtbar erweist.«
    Noch bevor ich sie ironisch fragen konnte, ob es denn
    möglich sei, auf Befehl schwanger zu werden, war sie schon wieder nach vorne geritten. Ghashang blieb jedoch in meiner Nähe und sagte kurz darauf in ihrer nachdenklichen Art zu mir: »Merkwürdig. Modar Lubo irrt sich. Die Männer streiten sich zwar während der Wahl, aber nur deswegen, weil keiner hierhergeschickt werden will. Ich habe nie erfahren,
    weshalb.«
    Ich hätte ihr antworten können, daß die Kutriguri trotz ihrer Wildheit offensichtlich doch recht vernünftig waren, aber ich verkniff mir diese Bemerkung.
    »Noch sonderbarer ist, daß sie diesmal

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