Der Greif
ein Abendessen zubereiten.«
Ich weiß nicht, was für ein Gesicht ich daraufhin machte; auf jeden Fall hielt es der alte Drachen nun wohl doch für angebracht, ein paar Erklärungen abzugeben.
»Ja, wir essen unsere verstorbenen Schwestern. Eines
Tages werde auch ich verspeist werden, und du ebenso. Auf diese Weise verhelfen wir jeder Waliskari dazu, nach ihrem Tod sehr bald in die Welt der Göttinnen Tabiti und
Argimpasa zu gelangen um dort glücklich weiterzuleben.
Wenn wir Roshan verdauen, lösen sich ihre körperlichen Überreste sehr schnell auf, und sie kann ihre Reise in die Unsterblichkeit viel früher antreten, als wenn wir sie begraben würden. Unter der Erde würde es nicht nur
wesentlich länger dauern, bis ihr Körper zerfällt, sondern es würde zudem stets die Gefahr bestehen, daß irgendein
Mann ihre Leiche ausgräbt und schändet.«
Ich dachte bei mir, daß es nun wohl keine Abartigkeit mehr gab, mit der mich die Waliskarja noch überraschen oder gar erschüttern konnten. Dann fiel mir ein, daß die Waliskarja ihre kannibalischen Bräuche nicht allein erfunden hatten, denn der alte Wyrd hatte mir einmal erzählt, daß einige der Skythen auch schon Kannibalen gewesen waren. Von
diesen hatten die Vorfahren der Waliskarja diese
kannibalischen Bräuche zweifellos übernommen. Und jeder kennt ja die Geschichte von Achilles und Penthesilea, in der der Held des trojanischen Krieges die Königin der
Amazonen nicht nur besiegt und umbringt, sondern sie dann noch zusätzlich entehrt, indem er ihre Leiche schändet. Ich nahm allerdings stark an, daß Penthesilea selbst als Leiche immer noch wesentlich mehr Reize besaß, als diese Roshan zu ihren Lebzeiten je hatte aufweisen können.
»Ich schlage vor, daß du dich gleich an die Arbeit machst, Veleda«, sagte Mutter Liebe. »Ich weiß aus Erfahrung, daß die Zubereitung einer solchen Mahlzeit sehr lange dauern kann. Da schau, die Kinder blicken sie schon ganz hungrig an. Shirin, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, dann hilf Veleda beim Zerlegen und Ausnehmen.«
Ich habe nicht vor, die verschiedenen Prozeduren, die zur Zubereitung dieses Mahls erforderlich waren, bis ins
einzelne zu beschreiben. Wenigstens mußte ich nicht auch noch den Kopf zerlegen. Als ich jedoch die großen Brocken der gelben Fettschicht, die wir vom Bauch und vom Gesäß des Körpers heruntergeschnitten hatten, wegwerfen wollte, war meine Kochgehilfin Shirin entsetzt: »Väi, Veleda, das sind die schmackhaftesten Stücke von allen. Du wirst schon noch merken, wie zäh und sehnig das rote Fleisch ist;
außerdem liefert dieses Fett uns ein Polster für unsere eigenen Körper. Roshan würde sich freuen, daß ihr Fett auf diese Weise an ihren Schwestern weiterlebt.« Kurz darauf schalt mich Shirin: »Na, na! Willst du diese kleinen
Stückchen etwa auch wegwerfen? Gekocht ergeben sie
knusprige Leckerbissen.«
Ich möchte lieber darauf verzichten, zu erläutern, worum es sich bei diesen kleinen Stückchen handelte. Lediglich so eindeutig ungenießbare Teile wie die Fußnägel, die Haare unter den Achselhöhlen und die schmutzigeren Eingeweide durfte ich schließlich doch wegwerfen. Später zeigte mir Shirin dann die Grube, in der der Stamm ein wenig Gemüse und seine Vorräte an getrocknetem Hanf aufbewahrte. Um dem zerhackten und in Stücke geschnittenen Fleisch etwas Geschmack zu verleihen, gab ich noch wilde Zwiebeln,
Kresse sowie ein paar Lorbeerblätter hinzu. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, selbst von dieser schauerlichen Mahlzeit zu kosten; nicht nur, weil sie aus Menschenfleisch bestand, sondern auch, weil ich dem Essen, das nun in
großen Kesseln über den Feuern garte, noch ein paar
spezielle Zutaten hinzugefügt hatte. Als Shirin nämlich eine Weile weg war und ich, wie sie befohlen hatte, das Essen umrührte, krümelte und streute ich dabei Pflanzen, die ich lange zuvor am Flußufer gesammelt und dann getrocknet
hatte, in das brodelnde Gebräu. Die betäubende Wirkung der Borretschpflanzen war mir seit langem bekannt;
außerdem hatte der alte Wyrd mir einmal erzählt, daß das Kreuzkraut ein Pferd völlig verrückt machen könne. Also machte ich von beiden Pflanzen recht großzügig Gebrauch.
Vielleicht hätte ich gezögert, diese bitteren Krauter einer Person mit einem empfindlicheren Gaumen zu verabreichen, aber bei diesen Allesfresserinnen hatte ich nicht die
Befürchtung, daß der etwas bittere Geschmack der Mahlzeit ihnen sonderbar oder
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