Der Greif
ich auf das Feld. »Warum hat Tufa diesen Wutanfall bekommen?«
Der Alte zuckte nur mit den Schultern. »Sus barbaricus«, wiederholte er. Da er mir redselig erschien, beschloß ich, so viel an Information wie nur möglich aus ihm herauszuholen.
»Ich nehme an, daß Euer sus barbaricus Tufa sein Heer
nach Rom führt«, sagte ich. »Führt diese Straße auch
dahin?«
Er hob den Kopf und fragte bitter: »Wollt Ihr Euch die Bestie anschauen?«
»Vielleicht will ich ihm im Namen aller hier versammelten Schmeißfliegen für das überaus großzügige Geschenk
danken.«
Mein Gesprächspartner kicherte und antwortete: »Die Via Aemilia endet im adriatischen Hafen von Ariminum.
Allerdings«, er zeigte gen Osten, »gibt es wenige Meilen von hier entfernt eine kleine, schlecht ausgebaute Straße, die nach links abzweigt und sich durch die Sümpfe nach
Ravenna schlängelt. Man hätte annehmen können, daß in all den Jahren, seit Ravenna zur Hauptstadt des Reiches
wurde, von einem der Herrscher eine bessere Straße gebaut worden wäre, doch keiner wollte sein Besitztum leicht
zugänglich machen.«
»Und es gibt keinen anderen Weg?«
»Doch. Wenn Ihr Euer schönes Pferd gegen ein Boot
eintauscht, könnt Ihr Ravenna vom Meer aus erreichen. Die einzige Alternative ist die Via Popilia, die nördlich und südlich entlang der Küste verläuft. Doch auch das ist keine rechte Straße. Dort verkehren fast nur Maultierzüge, die Salz von den Alpen zum Hafen bringen.«
»Gut«, sagte ich. »Ich nehme die Sumpfstraße.«
»Ihr solltet aber vorsichtig sein. Wenn Odoaker sich in Ravenna aufhält, sind rings um die Stadt Wachen postiert.
Man wird sich Euch zumindest in den Weg stellen. Oft
werden ungeladene Besucher auf der Stelle umgebracht.«
»Dies Risiko muß ich auf mich nehmen, schon allein
wegen der Schmeißfliegen«, erklärte ich gleichgültig.
»Das braucht Ihr nicht, wenn Ihr nur dem Wohltäter der Schmeißfliegen Euren Dank überbringen wollt. Odoaker
schließt sich oft monatelang ein, aber Tufa ist durch seine militärischen Pflichten zum Reisen gezwungen. Außerdem bekleidet er das Amt des Legaten von Bononia. Ihr könntet einfach dort warten, und er wird früher oder später in seinem Palast eintreffen. Gewiß, es wird nicht einfach sein
hineinzukommen. Ihr werdet grob befragt, entkleidet und durchsucht werden. Es haben schon andere vor Euch
versucht, dem Clarissimus Grüße zu überbringen.«
Unsere Unterhaltung wurde dadurch unterbrochen, daß
die anderen Totengräber in unsere Richtung schrien, ihr Kamerad solle sich gefälligst nicht vor der Arbeit drücken und sich wieder zu ihnen gesellen. Der grunzte nur, grüßte mich, indem er seine Hacke schwang, und meinte fröhlich:
»Wie dem auch sei, Fremder. Tut uns einen Gefallen und nehmt ein paar Schmeißfliegen mit. Vale, viator.«
Damit ging er fort und half den anderen, die sterblichen Überreste von Friderich und sechs oder sieben anderen
Rugiern in ein gemeinsames Grab zu werfen.
Obwohl die Sumpfstraße schlecht gepflastert und
ausgetreten war und viele Löcher hatte, war ich froh, sie unter mir zu haben. Ich ritt in tiefster Dunkelheit, und die Kurven nach rechts und links verliehen mir wenigstens die Sicherheit, außerhalb von Treibsand und anderen Gefahren des Moores zu bleiben, das mich und Velox umgab. Seit ich von der Via Aemilia abgebogen war, hatte ich ungefähr zwölf Meilen zurückgelegt. Ich wußte nicht, wie weit es noch war bis Ravenna, ich sah keinen Lichtschein und über mir keine Wolken, die einen Widerschein zurückgeworfen hätten. Ich ging zu Fuß und führte Velox am Zügel, um so wenig
Geräusche wie möglich zu verursachen und in der
sternklaren Nacht so unauffällig wie möglich
voranzukommen.
Ich wußte, ich konnte in dieser Nacht nicht viel weiter vordringen, ohne von irgendwelchen Wachtposten
wahrgenommen zu werden. Ich hielt inne und überlegte, was besser sei: Velox anzupflocken und alleine
weiterzuschleichen oder ganz einfach hier auf den Morgen zu warten, um meine Situation besser einschätzen zu
können. Doch während ich überlegte, wurde mir die
Entscheidung abgenommen. In einiger Entfernung vor mir -
ich konnte nicht schätzen, wie weit - wurde ein Licht
entfacht, und so plötzlich, daß ich es für fliegende
Sumpfeidechsen hielt, welche in diesen Mooren oft
vorkommen. Doch dann teilte sich das eine Licht in neun verschiedene, und diese zerfielen wiederum in zwei
Gruppen, fünf zur Linken, vier
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