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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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zur Rechten; ich erkannte die Fackeln des polybischen Signalsystems.
    Zuerst war ich verwirrt, weil sie nicht sofort eine Nachricht signalisierten, sondern nur auf und ab tanzten, doch dann kam mir der Gedanke, mich umzudrehen, und ich erblickte ebenfalls in einiger nicht kalkulierbarer Entfernung eine identische Reihe von neun Lichtern. Es war klar, daß weit nordwestlich von diesen Sümpfen römische Legionäre,
    Kundschafter oder einfache römische Bürger eine Botschaft für die Truppen innerhalb Ravennas vorbereiteten. Die
    Fackelreihe im Westen begann eine Botschaft, und der
    Gedanke, daß diese Nachricht von überall in der Welt her kommen, durch Lichtzeichen weitergegeben und bald von
    Odoaker und Tufa in ihren Quartieren und von mir hier
    draußen in den Sümpfen gelesen werden konnte, war
    unfaßbar für mich.
    Doch dann geschah etwas, was mich zunächst ziemlich
    verwirrte. Als die Lichter außerhalb der Mauern von
    Ravenna sich bewegten - wobei die erste Fackel zur Linken und die erste Fackel zur Rechten erhoben wurde -, war die einzige Botschaft der dritte Buchstabe des alten runischen Alphabets (wenn Odoaker sein System nicht kurzfristig
    geändert hatte).
    Dann aber hörten die Lichter auf, den Buchstaben thorn zu wiederholen, hielten kurz inne und signalisierten dann ansus, dags, urus und wieder ansus - ADUA -, und ich
    verstand. Solch ein Buchstabiersystem mußte sich auf ein Minimum an Worten beschränken und diese komprimieren.
    Bei dem Wort ADUA war ein überflüssiges D weggelassen
    worden. Der Buchstabe thorn meldete nur den Th-Laut, für den diese Rune steht, in diesem Fall das Zeichen für den Namen »Theoderich«. Soviel verstand ich, daß die Nachricht etwas über Theoderich und den Addua-Fluß mitteilte.
    Allerdings wurde nun noch ein weiteres Wort gesendet oder vielmehr ein Teil davon: die runischen Buchstaben winja, eis, nauths und kaun - VIN und C. Dann tanzten beide
    Lichterreihen wieder auf und ab und wurden abrupt gelöscht.
    Ich stand wieder in der Dunkelheit, die nun schwärzer
    schien als zuvor, und dachte nach. Die übermittelte
    Nachricht TH ADUA VINC war bewundernswert knapp und
    zweifellos äußerst informativ für diejenigen, die sie erhielten, doch ich verstand nur die Hälfte. Mir war nur klar, daß Theoderich sich am Addua-Fluß befand, wo Odoakers
    andere römische Streitmacht postiert war, oder daß er sich vor nicht allzu langer Zeit dort befunden hatte. Und VINC
    stand in diesem Zusammenhang für »vincere«, besiegen. Es war vermutlich zuvor vereinbart worden, was durch das Verb ausgedrückt werden sollte - dessen Genus, Modus und
    Tempus -, doch ich war nicht eingeweiht, und deshalb
    konnte die Abkürzung VINC für mich eine Vielzahl von
    Dingen bedeuten: daß Theoderich siegreich war oder
    besiegt, daß er das ein oder andere sein würde oder
    gewesen war.
    Wohl, dachte ich, was immer auch signalisiert wurde, die Botschaft müßte Tufa eiligst aus den Mauern Ravennas
    herauslocken. Nur Odoaker konnte sich dort verstecken, während sein Land von den Eindringlingen gesäubert würde, nicht aber sein militärischer Oberbefehlshaber. Ich beschloß also, auf Tufa zu warten, und dafür schien Bononia - wie der alte Totengräber vorgeschlagen hatte - der beste Ort zu sein. Ich wendete mein Pferd zur Via Aemilia zurück und war froh, daß ich nicht irgendwie versucht hatte, mich nach Ravenna einzuschmuggeln.
    Ich wurde empfindlich in meinen Gedanken gestört, als ich gegen etwas Spitzes stieß, das sich schmerzhaft in meinen Bauch bohrte. Tief in Gedanken hatte ich Velox' warnendes Schnauben überhört und den Schatten übersehen, der vor mir in der Dunkelheit kauerte, bis ich direkt in dessen Speer lief. »Ich kenne Euch, Saio Thorn«, sagte eine heisere Stimme drohend.
    Jesus, dachte ich, die Römer wußten, daß ich ihr Gebiet betreten hatte. Doch nein, der Mann hatte Gotisch
    gesprochen. Ich mußte mich irren. Zu meiner weiteren
    Verwirrung fuhr der Mann fort:
    »Sagt die Wahrheit, Marschall, oder ich durchbohre Euch auf der Stelle. Gehört Ihr zu Odoaker, niu?«
    »Ne«, antwortete ich, koste es, was es wolle. »Ich bin hier, um einen von Odoakers Leuten zu töten.«
    Der Speer durchbohrte mich nicht, wurde aber auch nicht zurückgezogen. »Ich gehöre zu Theoderich und bin in
    dessen Auftrag unterwegs«, fügte ich hinzu. Nach einem weiteren, womöglich noch spannenderen Augenblick der
    Stille wagte ich zu sagen: »Speerträger, Ihr kennt mich in der Dunkelheit. Würde

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