Der Greif
kam, hatte ich natürlich angenommen,
die Stadt sei durch und durch christlich. Bald aber schon hatte ich feststellen müssen, daß Rom nur zum Teil christlich war, denn nur die Handwerker und Händler (mit Ausnahme der jüdischen) glaubten an den Gott der Christen. Ewig und die meisten anderen Fremden in der Stadt waren
arianischen Glaubens, mithin Häretiker. Und fast alle
einfachen Bürger, die Ewig mir vorstellte, glaubten, falls sie überhaupt irgendeiner Religion folgten, an die heidnischen Götter, Göttinnen und Geister des römischen Pantheons.
Am meisten überraschte mich, daß auch die Mehrheit der Patrizier und viele Senatoren, die Festus mir vorstellte, unbekehrbare Heiden waren. Vor dem Erstarken von
Konstantinopel hatte Rom neben seiner eigenen formlosen Religion die sogenannten »religiones licitae« anerkannt, das heißt die aus Ägypten importierte Anbetung der Isis, die aus Syrien gekommene Verehrung der Astarte, den aus Persien stammenden Mithraismus und den jüdischen Glauben an
Jehova. Diese Religionen, obwohl vom Staat mit Mißfallen betrachtet und von den christlichen Priestern mit aller Macht bekämpft, waren alles andere als ausgerottet oder
todgeweiht.
Nicht daß irgend jemand wirklich an irgend etwas geglaubt hätte. Wie auch die römische Nobilität in Vindobona sahen die Römer hier in den Religionen wenig mehr als nur einen Zeitvertreib, mit dem sie sich in ihren Mußestunden
vergnügten. An einem Tag beteten sie diesen, am nächsten Tag jenen Gott an, und zwar nur, um so viele Feste und Convivas wie möglich feiern zu können. Dabei schienen die römischen Edlen, egal welcher Religion auch immer sie
angehörten, die müßiggängerischen und indezenten
Aspekte am höchsten zu schätzen. In vielen Eingängen
konnte man die Statue der Göttin Murtia sehen. Um
hervorzuheben, daß Murtia die Göttin der Faulheit und des Müßiggangs war, ließen die Gärtner der Familien die
Statuen mit Moos überwuchern. Der Senator Symmachus,
gleichzeitig »urbis praefectus«, Gouverneur Roms, ein
äußerst respektierter Patrizier und Illustris, hatte im Vorhof seiner Villa eine Statue von Bacchus aufgestellt. Dieser Bacchus protzte mit einem überlebensgroßen, hoch
aufgerichteten Glied. Darunter stand geschrieben
»Rumpere, invida!«
Mir waren solche Dinge ja keineswegs fremd oder
unangenehm, und so gefiel mir die Gesellschaft dieser freien und lebenslustigen Menschen. Vier der Männer, die ich hier traf, sollten hohe Beamte in Theoderichs Regierung und enge Berater von ihm werden hauptsächlich wegen ihrer
Talente, aber zum Teil auch, weil ich sie mochte und sie ihm empfohlen hatte.
Einer davon, Anicius Manilus Severinus Boethius, war, wie sein Name schon andeutet, Abkömmling einer der ersten
Familien Roms, der Anicii. Er war gutaussehend,
vermögend, witzig und mit einer schönen und
temperamentvollen Frau namens Rusticana verheiratet.
Obwohl Boethius nur halb so alt war wie ich, als ich ihn kennenlernte, erkannte ich sofort seine überaus große
Intelligenz und Begabung. Er enttäuschte die in ihn
gesetzten Erwartungen nicht und stieg auf zu Theoderichs Magister officiorum, dem höchsten Beamten in der
Verwaltung. Auch ansonsten war Boethius nicht müßig. Er übersetzte über dreißig wissenschaftliche und
philosophische Werke aus dem Griechischen ins
Lateinische, darunter Bücher von Ptolemäus über
Astronomie, von Euklid über Geometrie, Phytagoras'
Abhandlungen über die Theorie der Musik und Aristoteles'
Betrachtungen über die gesamte Schöpfung. Boethius'
Privatbibliothek (deren Wände aus Glas und Elfenbein
gefertigt waren, ein angemessenes Behältnis für den darin enthaltenen Schatz) war umfassender als jede andere, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Doch war er kein staubbedeckter Gelehrter, er war auch ein überaus
geschickter Konstrukteur und Handwerker. Aus Anlaß
irgendeiner Festlichkeit beispielsweise entwarf und baute er für Theoderich eine fein gearbeitete, ornamentierte
Standuhr, ein geniales, kompliziertes Himmelsgewölbe mit einer Sonnenuhr, auf der eine Statue des Königs von einer einfallsreichen Mechanik so bewegt wurde, daß er sich
immer der Sonne zuwandte. Wahrscheinlich verdankte
Boethius seine literarische Neigung dem Präfekten und
Senator Symmachus. Symmachus, Autor einer
siebenbändigen Geschichte Roms, hatte Boethius, der
schon als Kind seine Eltern verloren hatte, aufgenommen und erzogen. Später adoptierte er ihn
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