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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Bemerkung klang eher wie eine Frage denn wie ein Feststellung.
    »Man kann«, seufzte ich, »von den vorgelegten Fakten
    oder den Aussagen ausgehen. Die Fakten kenne ich nicht, ich habe dem Prozeß nicht beigewohnt. Als Beweis wurden Briefe vorgelegt, Briefe, die echt oder auch gefälscht gewesen sein mögen. Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls befanden die Richter Albinus aufgrund der vorgelegten
    Beweise für schuldig. Und Boethius, der gesagt hatte ›Dann bin ich es auch‹, nahmen sie beim Wort.«
    »Das ist doch lächerlich! Der Magister Officiorum des
    Königs ein Verräter?«
    »Er selbst hat es bezeugt. Rhetorisch zwar nur, aber ja, er hat es gesagt.« Ich seufzte erneut. »Ich will nicht ungerecht sein, man kann die Richter verstehen. Sie waren
    Theoderichs veränderter Einstellung gewahr, seiner
    Neigung, allem und jedem Mißtrauen entgegenzubringen.
    Wie sollten sie selbst dagegen gefeit sein? Und wenn die Beweise Albinus der Schuld überführten...«
    »Aber Boethius! Rom hat ihn mit dreißig Jahren zum
    Consul Ordinarius ernannt. Einer der jüngsten jemals...«
    »Und jetzt, mit vierzig, nach eigenem Geständnis des
    Verrats an Rom schuldig.«
    »Unvorstellbar. Absurd.«
    »Der Gerichtshof bestätigte lediglich seine Aussage. Und das war gleichzeitig der Schuldspruch.«
    »Und die Strafe?«
    »Auf Hochverrat, Livia, steht nur eine Strafe.«
    »Der Tod...«, keuchte sie.
    »Das Urteil muß zuerst noch vom gesamten Senat
    angenommen und vom König bestätigt werden. Ich hoffe
    inständig, daß es widerrufen wird. Der alte Symmachus, der Schwiegervater von Boethius, ist immerhin noch Erster
    Senator. Das wird nicht ohne Einfluß auf die Entscheidung des Senats bleiben. Unterdessen hat Theoderich Cassiodor Filius auf Boethius' vakanten Posten gesetzt. Die beiden waren enge Freunde. Cassiodor wird Boethius' Sache vor Theoderich vertreten. Und wenn es jemanden gibt, der mit Worten überzeugen kann, dann Cassiodor.«
    »Du solltest auch gehen und für ihn streiten.«
    »Ich muß nach Ravenna, ob ich will oder nicht«,
    entgegnete ich düster. »Als Marschall des Königs wurde mir aufgetragen, den schwerbewachten Boethius in das
    calvenatische Gefängnis nach Ticinum zu eskortieren.
    Zumindest braucht er jetzt nicht in dem berüchtigten Kerker von Tullianum hier in Rom seiner Freilassung
    entgegenzuharren. Soviel wenigstens konnte ich erreichen.«
    Livia lächelte hintersinnig und murmelte: »Deine
    Gefangenen hast du schon immer zuvorkommend
    behandelt.«
    In diesen zwölf Monaten im calvenatischen Gefängnis
    verfaßte Boethius seine berühmten Tröstungen der
    Philosophie, während alle verständigen Männer außerhalb der Gefängnismauern sich für seine Freilassung einsetzten.
    Ich glaube, es war dieses Buch, das letztendlich über den Erfolg der Gnadengesuche entschied.
    An eine Passage erinnere ich mich sehr deutlich:
    »Sterblicher, du selbst warst es, der dein Los nicht der Sicherheit, sondern Fortuna anvertraut hat. Jubele nicht zu laut, wenn sie dich zu großen Siegen führt; und hadere nicht, wenn sie dich ins Unglück leitet.«
    Die Mühlen des Gesetzes in Rom mahlten quälend
    langsam. Unterdessen sprachen in Ravenna Cassiodor,
    Symmachus, Boethius' tapfere Frau Rusticana, ich selbst und viele andere, die sich für den Gefangenen einsetzten, mit Theoderich. Aber niemandem gab er zu verstehen, wie er über die Angelegenheit dachte. Unmöglich, daß er nicht erkannte, welches Possenspiel der Justiz da vor ihm
    aufgeführt wurde. Konnte er all die Jahre, die Boethius ihm treu und verläßlich gedient hatte, vergessen haben?
    Boethius -
    soviel muß Theoderich gewußt haben -
    schmachtete unschuldig und zu Unrecht angeklagt im
    Gefängnis, verzehrt von dem Wissen über das
    Damoklesschwert der drohenden Todesstrafe, das über ihm hing, und dem vielleicht noch quälenderen Wissen um seine Unfähigkeit, die Verzweiflung seiner Frau und seiner Kinder lindern zu können. Doch Theoderich war König, und als
    solcher mußte er zumindest dem Schein nach den geltenden Gesetzen folgen. Alles, was er mir und den anderen
    Bittstellern antwortete, war: »Soll ich die Entscheidung des Senats in Rom vorwegnehmen? Ich muß abwarten, ob er
    das Urteil annimmt oder nicht. Erst dann kann ich über ein Gnadengesuch bestimmen.«
    Bei meinen gelegentlichen Besuchen in Ticinum sah ich, wie Boethius' Haar in diesem einen Jahr ergraute. Doch er hielt sich aufrecht, unterstützt von seinem regen, niemals ruhenden Geist. Wie

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