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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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die
    Zugehörigkeit zur katholischen oder orthodoxen Kirche
    verbunden waren, war es durchaus vorstellbar, daß sie
    längst schon einvernehmlich geregelt hatten, wem welche Ländereien zufallen würden. Solange Theoderich noch lebte und nicht ganz der Senilität verfiel, würden sie keinen Angriff wagen. Stattdessen warteten sie darauf, wie die Aasgeier über das Land herfallen zu können.
    Dreißig Jahre lang hatte die römische Kirche unablässig und erfolglos versucht, Theoderich ernsthafte
    Schwierigkeiten zu bereiten, aber die Opposition gegen ihn hatte nicht ein Jota nachgelassen. Fast jeder katholische Bewohner des Königreiches, von Roms Erzbischof
    Johannes bis zum letzten höhlenbewohnenden Eremiten,
    hätte laut gejubelt, wenn irgendein Nichtarianer den Thron an sich gerissen hätte. Ich sage »fast«, denn sowohl unter den Gemeinen wie den Adligen gab es Männer und Frauen, die zwar durch ihr Glaubensbekenntnis dazu verpflichtet waren, der Sichtweise der Kirche zu folgen und nicht für sich selbst zu denken, die aber dennoch verständig genug waren zu sehen, welche Katastrophe das Ende des gotischen
    Königreiches für das Land bedeuten würde.
    Auch die Senatoren in Rom waren gegenüber dieser
    Gefahr nicht blind. Obgleich sie fast ausnahmslos dem
    katholischen Glauben anhingen und somit zur Opposition gegen die häretischen Goten verpflichtet waren, und obwohl sie fast ausnahmslos hochgeborene Römer waren, die es
    naturgemäß vorziehen mußten, wieder von einem der ihren regiert zu werden, waren sie doch auch pragmatische
    Männer. Rom und Italien, das gesamte einstige
    weströmische Reich, war von Theoderich vor dem Absturz ins Nichts gerettet worden und hatte in der Folgezeit eine seit vier Jahrhunderten nicht mehr dagewesene Periode
    innerer und äußerer Stabilität erlebt und stetig wachsenden Wohlstand genossen. Die Senatoren übersahen keineswegs die Gefahr, die von den an den Grenzen lauernden Franken und Vandalen -
    und selbst von kleineren, einst
    unterdrückten, alliierten oder zu vernachlässigenden Völkern wie den Gepiden, Rugiern oder Langobarden - ausgehen
    würde, wenn das gotische Königreich von einem weniger
    fähigen Mann als Theoderich geführt werden würde. Die
    Senatoren schienen der Devise »Lieber die Barbaren, die wir kennen, als die Barbaren, die wir nicht kennen«
    anzuhängen. Wie wir an Theoderichs Hof diskutierte und stritt der Senat über die Befähigung dieses oder jenes Kandidaten für die Thronnachfolge, ohne es als
    Hinderungsgrund zu betrachten, wenn der Kandidat
    gotischer Abstammung oder arianischen Glaubens war. Wie wir fanden auch die Senatoren niemanden.
    Zwar betrachteten die Senatoren zu Recht jede
    ausländische Nation mit mißtrauischen Augen, vor allem aber fürchteten sie ein nicht im mindesten barbarisches Reich: ihren alten Rivalen im Kampf um die Vorherrschaft, das oströmische Reich. Diese Furchtsamkeit des Senats war es, die zu dem beklagenswertesten Geschehnis führte, das sich in dem Jahr des Tagsternes ereignete.
    Der Senator Cyprianus klagte Albinus, der ebenfalls ein Senator war, an, mit Konstantinopel in verräterischem
    Briefwechsel zu stehen. Der Vorwurf konnte ernst sein oder auch nur billige Verleumdung. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Senator einem anderen die widerwärtigsten Untaten vorwarf. Verleumdung war und ist ein weithin angewandtes Mittel im Kampf um politische Vorteile. Soweit ich weiß, hatte Albinus in der Tat mit Staatsfeinden konspiriert. Aber das ist jetzt ja auch gleichgültig.
    Als fatal erwies sich, daß der angeklagte Albinus ein enger Freund des Magister Officiorum Boethius war. Hätte
    Boethius sich aus der ganzen Sache herausgehalten, dann wäre vielleicht gar nichts weiter passiert. Doch er war ein guter Mann, der nicht tatenlos dabeistand, wenn ein Freund verleumdet und des Verrats bezichtigt wurde. Ein Vorwurf, auf den der Tod stand. Als der Senat für die Verhandlung von Albinus zum Gericht zusammentrat, trat Boethius vor die Richter und hielt eine Verteidigungsrede, die er mit den Worten »Wenn Albinus schuldig ist, dann bin ich es auch!«
    schloß.
    »In meiner Kindheit mußte ich die Kunst der Rede
    studieren«, sagte ich betrübt zu Livia. »Diese Äußerung von Boethius stammt aus den Lehrbüchern, jeder Schüler hätte sie als das erkannt, was sie war: ein elentisches Argument über die Natur der Wahrscheinlichkeit. Aber der Gerichtshof des Senats...«
    »Sicherlich einsichtige Männer.« Livias

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