Der Greif
Alkoholwahn getroffenen
Entscheidungen Berufung ein.«
Ich lächelte ihr anerkennend zu. Schon als Kind war Livia aufgeweckt und schlau gewesen. Offensichtlich hatten die Jahre nicht nur Grau in ihr Haar und Falten in ihr Gesicht gewoben, sondern ihr noch mehr gegeben. Bildung...
»... und Weisheit«, murmelte ich halblaut. Das Gebäck, das ich aß, schmeckte sehr seltsam. »Livia, ich dachte, du hättest deine Rachegelüste aufgegeben. Für einen
Honigkuchen schmeckt das hier ungewöhnlich bitter.«
Sie lachte. »Nein, ich versuche nicht, dich zu vergiften.
Ganz im Gegenteil. Diese Kuchen werden mit korsischem
Honig gebacken. Und der ist bitter, denn dort wachsen nur Eiben und Schierling. Die Korsen, das ist allgemein bekannt, leben sehr lange, und deswegen wird der Honig von vielen Ärzten als lebensverlängerndes Mittel empfohlen.« Mit
gespielter Verzweiflung fügte sie hinzu: »Da hast du's. Da ich deine Gefangene bin und nur du mich besuchen kommst, versuche ich jetzt, dich bis in alle Ewigkeit am Leben zu erhalten.«
»Bis in alle Ewigkeit?« Ich ließ den angebissenen Kuchen liegen und wiederholte, mehr zu mir selbst als zu ihr: »Bis in alle Ewigkeit? Ich habe vieles gesehen und vieles getan -
und nicht nur Schönes. Ewig leben? Immer so viel vor sich wie hinter sich zu haben? Nein... diese Vorstellung
erschreckt mich. Lieber nicht.«
Da Livia mich mit der warmen Fürsorge ansah, wie sie
einer Schwester oder Ehefrau zu eigen sind, sprach ich weiter. »Genau das ist es, was so traurig ist an Theoderich.
Er hat einfach zu lange gelebt. Seine guten Taten, seine Größe, das alles läuft Gefahr, von irgendeiner törichten Handlung, zu der ihn sein Alter, nicht sein Wille, veranlaßt, zunichte gemacht zu werden.«
Livias Ausdruck war immer noch von dieser Wärme erfüllt, als sie antwortete: »Ich sagte es dir bereits. Was er braucht, ist die Aufmerksamkeit einer guten Frau.«
»Nicht die dieser Frau.« Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Welche wäre besser geeignet?«
»Als Thorn habe ich Theoderich meinen Eid geschworen.
Sollte ich als Thorn jemals gezwungen werden, gegen
diesen Eid zu verstossen, dann wäre ich in den Augen aller Menschen, selbst in meinen eigenen, entehrt und nicht
würdig, weiterzuleben. Veleda jedoch hat niemals einen solchen Schwur abgelegt...«
Alarmiert sagte Livia: »Fast fürchte ich zu mich fragen.
Woran denkst du?«
»Du bist eine gebildete Frau. Kennst du die wahre
Bedeutung des Wortes ›devotio‹?«
»Ich glaube schon. Steht es heute nicht für ein Gefühl, eine äußerste Hingabe? Früher aber bezog es sich auf eine Handlung, ein Opfer?«
»Genau. Das Wort leitet sich ab von ›Votum‹, der Schwur, das Gelübde. Vor dem Kampf beteten die römischen
Kommandeure zu Mars oder Mithras und gelobten auf dem
Schlachtfeld den Tod zu suchen, sollte der Gott des Krieges ihnen den Sieg und ihrer Armee, ihrem Volk und ihrem
Kaiser das Überleben schenken.«
»Sein Leben aufgeben, damit die anderen leben und
fortbestehen können«, sagte Livia mit bedrückter Stimme.
»Mein Lieber,... was hast du nur vor?«
9
Im Jahr 523 stand länger als zwei Wochen ein Stern am
Himmel, sichtbar sogar im hellen Tageslicht. Es war einer jener Sterne, den manche einen rauchenden Stern nennen, andere einen Stern mit langen Haaren und den wieder
andere als einen fackeltragenden Stern bezeichnen. In der Folge schrieen alle Priester, ob Christen oder Juden, und jeder heidnische Augur und Wahrsager »Wehe uns!« und
verkündeten, dieser oder jener Gott habe das Ende der Welt beschlossen.
In der Tat ereigneten sich zahlreiche unerwartete Dinge in diesein Jahr, aber ich konnte weder Gottes Hand noch die irgendwelcher anderer Götter darin erkennen; es waren
samt und sonders Werke sterblicher Männer und Frauen. So setzten Justinian und seine Kurtisane Theodora in diesem Jahr und mit tatkräftiger Unterstützung der Kirche das Gesetz der »wundertätigen Buße« durch, um endlich
heiraten zu können. Nachdem nun Justinian seine
persönlichen Verhältnisse in Ordnung gebracht hatte,
wandte er sich der seiner Auffassung nach vordringlichsten Aufgabe zu: den Rest der Welt in Ordnung zu bringen,
sprich der Oberaufsicht der katholischen Kirche zu
unterstellen. Die in Konstantinopel verkündeten Erlasse wurden natürlich immer noch von Kaiser Justinus
unterzeichnet, aber die Worte waren die Justinians. Als bekanntgegeben wurde, daß hinfort kein Heide oder
Ungläubiger
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