Der Greif
schon gesagt hat er in seinem Leben viele Bücher über viele Themen geschrieben, die aber
größtenteils nur von Fachleuten geschätzt und gelesen
wurden - von Mathematikern, Astronomen, Musikern und so weiter. Doch seine De Consolatione Philosophiae fand einen viel weiteren Anklang, ging es dann doch um Verzweiflung und wie sie zu besiegen sei. Da es nur wenige Menschen gibt, die niemals verzweifelt waren, gibt es auch nur wenige, die nicht mit Boethius sagen konnten: »Denke daran,
Sterblicher, sollte Fortuna jemals an einem Ort verharren, dann wäre sie nicht länger Fortuna.«
Als das Buch fertig war, zögerte der Gefangnisverwalter mit der Freigabe. Deshalb befahl ich ihm, dafür zu sorgen, daß das Manuskript vollständig und intakt an Boethius' Frau weitergeleitet wurde, die allen die interessiert und des Lesens kundig waren, eine Abschrift zuganglich machte. Die Abschriften wiederum wurden kopiert und weitergegeben.
Das Buch wurde so viel diskutiert, zitiert und hochgelobt, daß es schließlich auch die Aufmerksamkeit der Kirche
erregte.
Boethius hatte das Buch zu einer persönlichen
Gnadenbittschrift machen können. Doch er hatte darauf
verzichtet. Nur kurz beklagte das Buch die Umstände, unter denen sein Autor litt. Nicht einmal suchte es bei irgend jemanden die Schuld dafür. In dem Text erscheint die
Philosophie als eine Art Göttin, die den Autor in seiner Gefängniszelle besucht, wann immer ihn sein Mut zu
verlassen droht, und die ihm die eine oder andere Tröstung anempfiehlt. Darunter Gedankengut heidnischer Religionen, platonische und stoische Ideen, einfache Meditationen und, immer und immer wieder, die rettende Gnade Gottes.
Aber nirgendwo verwies die Philosophie, verwies das
Buch, verwies Boethius auf den christlichen Glauben als erlösendes Mittel. Kein Wunder, daß die katholische Kirche das Buch heftig kritisierte, es »verderblich« nannte und in den Statuten des Decretum Gelasium den Gläubigen seine Lektüre verbot. Es war wohl kein Zufall, als der Senat schließlich mit einer Mehrheit, die fast genau dem Anteil der katholischen Mehrheit seiner Mitglieder entsprach, das Urteil gegen Boethius bestätigte und dem König zur
abschließenden Bewertung übermittelte.
Ich wage zu behaupten, Boethius' Buch wird den Bann der Kirche überdauern. Boethius selbst tat es nicht.
»Und der Erzbischof hat in Konstantinopel tatsächlich
gefordert, die arianischen Kirchen im gotischen Königreich nicht der katholischen Kirche zu übereignen?« Livia blickte mich neugierig an, während ihre Dienerin mir ein Glas Wein einschenkte. Ich war gerade erst aus Ravenna
zurückgekommen und fühlte mich müde und durstig.
»Warum sollte er eine solch fette Beute aufgeben? Noch dazu wenn sie ihm ganz ohne sein Zutun in den Schoß
gefallen wäre?«
»Weil Theoderich ihn als seinen Gesandten mit diesem
Auftrag zu Justinus befohlen hat. Johannes brachte, wenn auch widerwilig, aus Konstantinopel ein Dokument mit,
unterzeichnet von Justinus und Erzbischof Ibas. In diesem Zusatz zu dem ursprünglichen Erlaß wird bestimmt, daß die arianischen Kirchen nur in den Grenzen des östlichen
Reiches konfisziert werden. Der Kaiser in seiner unendlichen Güte hat verfügt, die arianischen Besitztümer im gotischen Königreich von der Beschlagnahmung auszunehmen.«
»Kaum zu glauben, daß Johannes sich auf diese Mission
einließ. Und noch viel weniger, daß er Erfolg hatte. Aber du scheinst nicht sehr erfreut darüber zu sein.«
»Da geht es mir wie Johannes. Kaum zurück in Ravenna,
ließ Theoderich ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen.«
»Was? Warum denn das? Er hat den Befehl des Königs
doch getreu...«
»Livia, du selbst konntest es gerade kaum glauben.
Unseren König treiben die übelsten Verdächtigungen um.
Das Dokument ist echt, die arianischen Kirchen sind also sicher. Doch Theoderich mißtraut dem Frieden und
argwöhnt, Papst Johannes habe, um dieses Pergament zu
bekommen, irgendwelche Zugeständnisse gemacht.
Vielleicht versprach er, die Kirche Roms und alle guten Katholiken würden dem östlichen Reich beistehen, wenn
Krieg zwischen Rom und Konstantinopel ausbrechen sollte?
Natürlich schwor Johannes auf die Bibel, nichts dergleichen getan zu haben. Theoderich denkt, es würde seinem
Gedächtnis auf die Sprünge helfen, eine Weile in Boethius'
alte Zelle im Ticinum zu schmoren.«
»Und was denkst du?«
»Jesus!« Ich zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich dachte, der König
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