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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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war mein Fehler«, beharrte ich. »Hätte ich nicht seine angeborenen Angewohnheiten und seine
    Lebensweise verändert, dann hätte er nur reine Dinge zu sich genommen«, fügte ich bitter hinzu. »Gerade ich hätte am besten wissen müssen, daß man nicht mit der Natur
    eines anderen Geschöpfes spielen darf.«
    Wyrd blickte mich verständnislos an und sagte nichts.
    Wahrscheinlich dachte er, ich redete - verwirrt vom Leid -
    irre.
    »Wenn der Juikabloth schon sterben muß«, fuhr ich fort,
    »dann hätte er im blutigen Kampf sterben sollen. Das hätte seiner Natur entsprochen. Wenn er wenigstens in der Luft, in seinem Element, gestorben wäre, dort, wo er am
    glücklichsten und am meisten zu Hause war.«
    »Das«, sagte Wyrd, »kann er immer noch. Nimm dies« - er streckte mir seinen Kriegsbogen, einen Pfeil schon in der Kerbe, entgegen - »und wirf den Adler in die Luft.«
    »Gerne würde ich«, entgegnete ich jämmerlich, »aber,
    Fräuja, ich habe nur selten mit diesem Bogen geübt. Ich könnte niemals einen Vogel im Flug treffen.«
    »Versuch es. Tu es jetzt, solange dein Freund noch fliegen kann.«
    Ich neigte den Kopf zur Seite, um meine Wange am Adler zu reiben, woraufhin er sich an mich drückte. Ich hob meine Hand und, das erste Mal seit Tagen, stieg er aus eigenem Antrieb auf meinen Finger. Ich schaute ihm ein letztes Mal in die Augen, die einst so scharf gewesen waren und jetzt so verschwommen blickten. Der Adler blickte mich an, so wild und so stolz er konnte. Stumm verabschiedete ich mich von dem einzigen lebenden Geschöpf, das mich mit Balsan
    Hrinkhen und meiner Kindheit verband. Und ich glaube, daß sich der Vogel, auf seine eigene Weise, auch von mir
    verabschiedete.
    Ich wippte meine Hand und der Juikabloth flog. Er schoß nicht steil in die Höhe, in der freudigen Art und Weise, die ihm früher zu eigen gewesen war. Er schlug so angestrengt mit seinen Schwingen, als ob sie nicht länger instinktiv die Luft fühlen, sie sich Untertan machen und beherrschen
    könnten. Aber er war immer noch stark, er floh nicht vor mir, sondern hielt sich vor mir in der Höhe, so daß er mich hören und schnell gehorchen und zurückkommen konnte, falls ich rufen würde. Aber ich rief nicht, und ich konnte ihn noch nicht einmal mehr sehen, weil meine Augen voller Tränen waren.
    Blindlings spannte ich den Bogen und ließ den Pfeil los.
    Als nächstes hörte ich das Geräusch des durch die Federn dringenden Pfeils, und dann den traurigen, weichen
    Aufschlag des leblosen Körpers auf dem Boden. Ich hatte nicht gezielt; ich hätte es nicht tun können. Ich war mir vollkommen im klaren darüber, daß der Juikabloth in den Pfeil hineingeflogen war. Damals schwor ich mir: Wenn
    meine Zeit kommt, werde ich danach streben, genauso
    heldenhaft zu sterben.
    Nach einiger Zeit, als ich wieder sprechen konnte, flüsterte ich dem Vogel zu: »Huarbodau mith gawairthja.« Dann sagte ich zu Wyrd: »Der Adler verdient ein Heldenbegräbnis.«
    »Begräbnisse sind für gezähmte Tiere«, grummelte er,
    »wie Soldaten, Frauen und Christen. Ne, überlaß ihn den Ameisen und Käfern. Adlerfleisch ist zäh und nicht sehr schmackhaft, kein höheres Wesen wird davon essen und
    sich infizieren. Aber die Insekten werden ihn zu Kompost umwandeln, und so wird unser Freund ein neues Leben
    beginnen.«
    »Was? Wie das?«
    »Vielleicht als eine Blume. Irgendwann wird er vielleicht einem Schmetterling als Nahrung dienen, der Schmetterling einer Lerche, und die Lerche einem zukünftigen Adler.«
    »Das ist kaum der Weg, in den Himmel zu gelangen«,
    spottete ich.
    »Das ist der Himmel: mit jedem Tod der Erde neues Leben und neue Schönheit zu geben. Nicht viele von uns kommen dazu, das zu tun. Laß deinen Freund hier. Atgadjats!«
    Als es wieder auf den Sommer zuging wurde die
    Beschaffenheit der Felle, die wir erbeuteten, immer
    schlechter, und Wyrd verkündete schließlich, daß wir jetzt genug Felle hätten. So stiegen wir von den Quellen des Flusses, wo wir uns aufhielten, hinab und verließen die Wälder. Vor uns lag der Lacus Brigantinus, die größte
    Wasserfläche, die ich bisher in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Wyrd erzählte mir, wieviele römische
    Meilen der See lang und breit war und daß an seinem
    tiefsten Punkt einhundertundfünfzig Männer, die einander auf den Schultern standen, nicht vom Grund an die
    Oberfläche reichen würden. Aber ich brauchte keine Zahlen, um seine Größe zu erfassen. Die Tatsache, daß ich nicht

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