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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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dazu herabgelassen, den einfachen Talar und die Mönchskutte überzuziehen. Er kam gekleidet als das, was er war und immer sein würde, Priester oder nicht: ein Krämer, der mit den Erzeugnissen der Arbeit anderer Menschen
    handelte - ein sehr erfolgreicher, wohlhabender, eitler und herausgeputzter Krämer. Aber die reine und einfache weiße Stola über seine Schultern gelegt zu sehen, über die teuren, protzigen Gewänder, hätte selbst seine Kaufmannskollegen und Speichellecker unangenehm berühren müssen.
    »Als meinen priesterlichen Namen«, schloß Tigurinex
    seine Erklärung, »erwähle ich Tiburnius, als Ehrerbietung gegenüber diesem alten Heiligen. Hinfort werde ich euch ein strenger, aber liebender Vater sein, Tata Tiburnius. Wie es die Tradition verlangt, frage ich, ob es in dieser
    Versammlung jemanden gibt, der meine Eignung zum
    priesterlichen Dienst in Frage stellt.«
    Die Kirche war überfüllt, aber keiner der Versammelten erhob seine Stimme. Verständlich, waren doch sämtliche Anwesende vor allem praktisch denkende, im Handel tätige Helvetier. Der vor und über ihnen thronende Mann konnte mit einem Wort oder sogar nur einem tadelnden Blick die Geschäftsaussichten jedes einzelnen Gemeindemitglieds
    auf immer ruinieren.
    Zu meiner Überraschung erhob sich dann doch eine
    Stimme. Zu meiner noch größeren Überraschung war es
    nicht die Stimme eines Helvetiers, es war die Wyrds. Ich wußte, es war ihm völlig gleichgültig, ob Tigurinex oder der Satan selbst Priester der Basilika des Heiligen Beatus war.
    Vielleicht war er betrunken und wollte einfach Unruhe stiften.
    Jedenfalls rief er zu dem Altar hinauf:
    »Lieber Vater, lieber Tata Tiburnius, wie vereinbarst du deine christlichen Prinzipien mit der Tatsache, daß diese Stadt ihren Reichtum vor allem den ewigen Kriegen
    zwischen den verschiedenen Fraktionen des Reiches
    verdankt? Wirst du dagegen predigen?«
    »Das werde ich nicht tun«, fuhr Tiburnius ohne Zögern
    Wyrd an und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Das
    Christentum verbietet nicht, Krieg zu führen, solange der Krieg ein gerechter ist. Da jeder Krieg den Frieden zum Ziel hat, und da Frieden eine göttliche Gnade ist, kann jeder Krieg gerecht genannt werden.«
    Tiburnius forderte keinen weiteren Widerspruch heraus -
    auch Wyrd hielt sich zurück - und fuhr fort:
    »Söhne und Töchter, bevor ich die Auflösung des
    Gottesdienstes verkünde, bitte ich um die Erlaubnis, zu euch aus den Briefen des Paulus lesen zu dürfen.«
    Tiburnius hatte aus den Briefen des Apostels Auszüge
    ausgewählt, die seinesgleichen in der Kongregation erfreuen würden, die anwesenden Gemeinen, Arbeiter, Tagelöhner
    und Sklaven einschüchtern und ihn, für den Fall daß eine hiesige oder durchreisende Persönlichkeit anwesend sein sollte, in einem schmeichelhaften Licht erscheinen lassen würden. »Der Apostel Paulus spricht: Jedermann sei
    untenan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seit: Steuer, dem die Steuer gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt. So spricht der Apostel Paulus.«
    Ich bahnte mir meinen Weg durch die verzückte Menge,
    um rechtzeitig den Ausgang zu erreichen. Ich dachte, daß Constantia nicht nur den Priester bekommen hatte, den es gewollt, sondern auch den, den es verdient hatte. Tiburnius kam ans Ende seiner Ansprache:
    »Laßt den Heiligen Augustinus die einzige Homilie über diesen Text sprechen. Der Heilige schrieb: ›Du bist es, Mutter Kirche, die die Frau dem Manne Untertan macht und den Manne über die Frau stellt. Du lehrst die Sklaven, ihren Herren Gehorsam zu erweisen. Du ermahnst die Könige,
    zum Vorteil ihres Volkes zu regieren, und du bist es, die die Untertanen ermahnt, ihren Königen zu dienen...‹ « In meiner Eile stieß ich am Ausgang mit einem jungen Mann
    zusammen, der offensichtlich auch darauf bedacht war, von hier wegzukommen. Wir traten zurück, murmelten
    Entschuldigungen, boten einander den Vortritt an, bewegten uns gleichzeitig und stießen prompt wieder zusammen. Wir lachten und schritten schließlich Seite an Seite durch die Tür.
    3
    Und so traf ich Gudinand. Obwohl Gudinand drei oder vier Jahre älter war als ich, wurden wir Freunde und blieben es auch für den Rest des Sommers. Von seiner Familie lebte nur noch seine behinderte Mutter. Er arbeitete, um sie und sich selbst zu ernähren.

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