Der Greif
waren, das an allen Ästen brannte und von den Spitzen der Zweige himmelwärts strömte.
»Jesus!« schrie ich und sprang auf. »Wir müssen die
Pferde retten. Sie sind an einem der Bäume angebunden.«
»Immer mit der Ruhe, mein Junge.« Wyrd blieb
bewegungslos sitzen. »Das ist das Feuer der Zwillinge, ein gutes Omen.«
»Seit wann ist ein Waldbrand ein gutes Omen?«
»Sieh genau hin. Das Feuer verbrennt kein einziges Blatt.
Es ist nur hell, nicht heiß. Die Seefahrer verehren die Zwillingsgötter Castor und Pollux, denn wenn ihre Feuer bei einem Sturm auf dem Meer erscheinen, lassen Sturm und
Seegang alsbald nach. Schau, das kalte, blaue Licht der Zwillinge verblaßt, und schon verliert auch der Sturm an Gewalt.«
Als ich im Herbst eines Tages damit beschäftigt war, eine Hirschkuh in die Richtung Wyrds zu treiben, der mit Pfeil und Bogen auf der Lauer lag, prallte ich gegen einen Baum.
Wenn ich nicht die Füße fest unter Velox' Gurt geklemmt hätte, wäre ich wahrscheinlich aus dem Sattel geworfen worden. So trug ich keine Verletzung davon außer einem großen blauen Fleck an der Hüfte. Was dagegen beschädigt wurde, war meine schöne, aus Leder und Zinn gefertigte Wasserflasche. Sie hatte eine tiefe Beule, und ich war untröstlich, durch mein Ungeschick ein so wertvolles und nützliches Geschenk beschädigt zu haben.
Aber Wyrd tröstete mich: »Sei nicht traurig, mein Junge.
Während ich diese prächtige Hirschkuh häute und zerlege und uns ein Mahl bereite, sammelst du von den Büschen
und Gräsern der Umgebung alle möglichen Samen.«
Ich hielt den Saum meines Kittels hoch und füllte die
dadurch entstandene Tasche mit Samen. Als ich
zurückkehrte, sagte Wyrd: »Schütte die Samen in deine
zerbeulte Flasche, bis sie ganz voll ist.« Dann gab er mir seine eigene, wassergefüllte Flasche. »Jetzt fülle sie bis oben mit Wasser. Verkorke sie so fest, wie du kannst, lege sie hin, und denk nicht mehr dran. Hier, die Innereien kannst du deinem Adler füttern. Dann brate dieses saftige Fleisch, und sorge dafür, daß das Feuer nicht ausgeht, während ich mich etwas hinlege. Wecke mich, wenn das Essen fertig
ist.«
Das frische Fleisch, gekocht in der gut gefetteten Haut der Hirschkuh und leicht gewürzt vom Feuer, für das Wyrd
aromatisches Lorbeerbaumholz genommen hatte,
schmeckte so köstlich, daß ich jeden Gedanken an meine Flasche vergaß. Aber noch während Wyrd und ich
schmatzend unser Mahl verzehrten, hörte ich einen lauten Knall aus der Richtung meiner ausgerollten Decken. Ich stand auf, um nachzusehen, und entdeckte, daß meine
Flasche keine Beule mehr hatte. Abgesehen von einer
rauhen Stelle am Lederriemen war sie so gut wie neu.
»Samen, Körner, Bohnen und ähnliches«, sagte Wyrd.
»Du brauchst sie nur zu befeuchten, und ihr Drang zu
wachsen erzeugt sofort einen unglaublichen Druck. Leere die Flasche jetzt aus, bevor die Samen den Korken über die Bäume fliegen lassen - oder die Flasche sprengen.«
Natürlich bestanden unsere Gespräche nicht immer darin, daß er erklärte und ich zuhörte - oder herumstritt, wie er mir so oft vorwarf. Meist unterhielten wir uns über weniger wichtige Dinge. Ich weiß noch, daß er mich einmal beiläufig fragte, warum ich nur den Namen einer Rune und nicht
einen richtigen Namen hätte. Ich erzählte ihm, wie die Mönche von St. Damian mich auf ihrer Schwelle gefunden und diese Rune auf meinen Windeln entdeckt hätten.
»Wahrscheinlich bedeutete sie Theodahad oder Theudis
oder so etwas.«
»Eher Theoderich«, sagte Wyrd. »Denn dieser Name
wurde männlichen Neugeborenen damals im Westen oft
verliehen. Der erste Theoderich, König der Westgoten, war kurz zuvor im Kampf gegen die Hunnen auf den
Katalaunischen Feldern den Heldentod gestorben. Und
wenig später folgte ihm einer seiner Söhne auf den Thron, der ebenfalls Theoderich hieß, ein weiser und milder
Herrscher, der sehr beliebt war.«
Ich erwiderte nichts. Ich hatte von diesen Theoderichs gehört, bezweifelte aber stark, daß meine Mutter ihr Kind, das weder Junge noch Mädchen war, nach einem König
benannt hatte.
»Heute«, fuhr Wyrd fort, »gibt es irgendwo im Osten einen neuen Theoderich, Theoderich Strabo, den unbedeutenden König eines Teil des ostgotischen Reiches. Aber da sein Name Theoderich Schielauge bedeutet, wette ich, daß nur wenige Eltern ihre Söhne ihm zu Ehren benennen. Und dann gibt es da noch einen Theoderich, einen Burschen ungefähr in deinem Alter,
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