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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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weggeblieben.
    Du hast dich sicherlich schon gefragt, warum ich keine Freunde habe. Ich hatte welche, von Zeit zu Zeit, aber ich habe sie alle verloren.«
    »Dann hatten sie es nicht verdient, Freunde genannt zu werden«, sagte ich. »Ist das der Grund, warum du immer noch diese schmutzige Arbeit in der Gerberei machen
    mußt?«
    Er nickte. »Niemand wird einen Arbeiter einstellen, der jeden Moment in aller Öffentlichkeit einen Anfall erleiden kann. Da, wo ich jetzt arbeite, sieht mich niemand, und« - er lachte bitter - »falls ich in der Grube einen Anfall erleide, hat das keine Auswirkung auf meine Arbeit. Die Zuckungen
    helfen sogar dabei, die Felle zu bewegen. Meine einzige Sorge ist, daß ich irgendwann nicht rechtzeitig bemerke, daß ein Anfall bevorsteht, und dann keine Zeit mehr habe, mich am Rand der Grube festzuklammern. Wenn das passiert,
    dann werde ich in dieser abscheulichen Brühe ertrinken.«
    »Ich kannte einst einen alten Mönch«, sagte ich, »der am selben Übel litt. Sein Medicus gab ihm regelmäßig einen Absud aus Lolchgrassamen zu trinken, was die Häufigkeit und Stärke der Anfälle vermindern sollte. Hast du das schon versucht?«
    Gudinand nickte erneut. »Meine Mutter verabreichte mir das Zeug mit geradezu religiösem Eifer gleich löffelweise.
    Aber eine Überdosis des Lolchabsuds kann leicht tödlich sein - und die Dosis ist schwer abzuschätzen. Also hörte sie damit auf. Sie wollte lieber mit einer lebendigen als mit einer toten Ungeheuerlichkeit leben.«
    »Du bist keine Ungeheuerlichkeit«, entfuhr es mir.
    »Manche der großen Männer der Geschichte waren ihr
    ganzes Leben lang von der Fallsucht besessen. Alexander der Große; der Cäsar Julius; sogar der Heilige Paulus. Das hat sie nicht daran gehindert, große Männer zu sein.«
    »Es gibt«, seufzte er, »eine entfernte Chance, daß ich nicht mein ganzes Leben lang daran leiden werde.«
    »Wie das? Ich dachte, die Krankheit wäre unheilbar.«
    »Das ist sie auch, zumindest für jene, die sich erst als Erwachsene damit anstecken - so war es vermutlich bei
    deinem alten Mönch. Aber für jemanden, der die Fallsucht seit seiner Geburt hat, wie ich..., nun, sie sagen, die Krankheit verschwindet, wenn ein Mädchen ihre erste
    Monatsblutung oder ein Junge seine, äh, sexuelle Initiation hat.« Gudinand errötete. »Was ich noch nicht hatte.«
    »Das würde dich heilen?« rief ich aufgeregt aus. »Das ist ja wunderbar! Aber warum in aller Welt bist du dann immer noch jungfräulich? Du hättest dich in meinem Alter zu einer Frau legen können. Oder noch früher.«
    »Scherze nicht mit mir, Thorn«, sagte er verzweifelt. »Mit welcher Frau denn? Jedes weibliche Wesen in Constantia und viele Meilen in der Umgebung weiß, was mit mir los ist.
    Jedes Mädchen wird von seinen Eltern vor mir gewarnt.
    Keine Frau würde es riskieren, sich von mir schwängern zu lassen und ein mit der Fallsucht geschlagenes Kind
    auszutragen. Selbst Männer und Jungen meiden mich, denn sie haben Angst, daß ich sie anstecke. Ich müßte schon sehr weit von hier weggehen und eine nichtsahnende Frau zur Freundin gewinnen oder verführen. Aber ich kann meine gebrechliche Mutter nicht alleine lassen.«
    »Ah, Gudinand! Es gibt doch Dirnen hier. Sie kosten nicht viel für einen...«
    »Ne. Selbst die käuflichen Frauen verweigern sich mir, entweder, weil sie Angst haben, sich anzustecken, oder weil sie fürchten, daß ich, während ich bei ihnen liege, einen Anfall erleide und sie irgendwie verletze. Meine einzige Hoffnung ist, ein Mädchen oder eine Frau zu treffen, die neu in der Stadt ist, und ihre Liebe zu gewinnen - oder zumindest ihre Einwilligung -, bevor sie vom Geschwätz der Leute gewarnt wird. Aber es gibt nur wenige weibliche Reisende.
    Außerdem wüßte ich auch gar nicht, wie ich mich einer Frau nähern sollte. Ich war so lange allein, daß ich ungeschickt und wenig redselig im Umgang mit anderen Menschen
    geworden bin. Mir erschien es bereits als eine Segnung, dich durch bloßen Zufall kennengelernt zu haben.« Ich sann einige Zeit nach. Eine unmögliche Idee kam mir in den Sinn (und meine Augenlider wurden schwer). Jetzt war es an mir, zu erröten. Aber ich erinnerte mich daran: Vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, mich niemals von meinem
    Gewissen oder dem, was die Welt Moral nennt, einengen zu lassen. Davon abgesehen, müßte selbst der fanatischste Moralapostel es als eine gute Tat anerkennen, selbst wenn mein Einfall teilweise auf meine

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