DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Pferd, ihre Röcke und Stiefel von Schlamm strotzten und ihr die Haare zerzaust über den Rücken fielen … Sie konnte gar nicht noch weniger nach der Enkelin des alten Berdoen und einer Cousine des Deltafürsten aussehen.
Nur wenige andere Reisende waren jedoch hier unterwegs, und obwohl sie Maianthe neugierige Seitenblicke zuwarfen,hielt keiner an, um mit ihr zu reden. Sie kam hier und dort an Feldwegen vorbei, und von Zeit zu Zeit befanden sich eingezäunte Wiesen neben der Straße. Manchmal betrachteten große, flachgesichtige weiße Rinder Maianthe gleichgültig über diese Zäune hinweg. Große zottelige Hofhunde musterten sie argwöhnisch, wenn sie vorbeikam, nur für den Fall, dass sie sich vielleicht als Sumpfkatze oder Viehdiebin erwies; aber sie kamen nicht bis auf die Straße.
Dieser Nebenarm des Sierhanan war, wie der nördliche Arm auch, sauberer und breiter und besser für Verkehr geeignet als die kleineren Flüsse des Deltas. Boote folgten der Strömung – flachbodige Kähne zumeist, die auf dem Weg flussabwärts waren; hin und wieder wurde ein Kielboot von einem Ochsengespann flussaufwärts getreidelt. Der Treidelpfad folgte dem Fluss jedoch am Ufer gegenüber, und die Viehtreiber waren viel zu weit entfernt, um sie zu rufen oder richtig zu erkennen.
Zum ersten Mal kam Maianthe der Gedanke, dass selbst dann, wenn sie das väterliche Haus erreichte, das Personal sie vielleicht nicht erkannte. Ganz sicher würden sie in ihr nicht die Neunjährige von damals wiedererkennen … Ob wohl irgendjemand dort sie überhaupt schon gekannt hatte, als sie noch neun war? Unvermittelt hatte sie eine lebhafte Erinnerung an Tef, wie er im Garten Blumen für das Haus schnitt. Beinahe konnte sie sich einreden, dass er noch lebte und sie im Haus ihres Vaters erwartete. Tränen brannten ihr in den Augen.
Hätte sie nur erwarten können, Tef dort vorzufinden, dann hätte sie viel stärker das Gefühl gehabt, auf dem Weg in ihr wirkliches Zuhause zu sein. Als ihr Daheim konnte sie jedoch das Haus ihres Vaters einfach nicht betrachten. Sie bemerkte, dass sie nicht einmal wusste, wo es genau stand. Na ja, sie wusste noch, dass es ein wenig nördlich vom eigentlichen Kames am Fluss stand, also musste sie direkt daran vorbeikommen, wennsie dieser Straße weiter nach Süden folgte. Aber ob sie auch den Torweg erkannte, wenn sie ihn sah? Auf einmal ertappte sie sich dabei, überzeugt zu sein, dass dies unmöglich war: dass sie den Torweg nicht wiedererkannte, dass sie ganz bis nach Kames reiten und dort nach dem Weg fragen musste, wie eine Bettlerin, die auf den Großmut eines Verwandten hoffte, der vielleicht eine Stelle für eine Dienstmagd oder Stallmeisterin frei hatte … Sie wurte rot, hielt das Pferd an und blickte unentschlossen nach links zum Fluss, schließlich nach rechts, den niedrigen bewaldeten Hügel hinauf, der sich neben dem Fluss erhob … Und dort erblickte sie das Tor.
Irgendwie erkannte sie die geschnitzten hölzernen Torpfosten, um die sich spiralförmige schmiedeeiserne Bänder wanden. Dann erkannte sie den Kiesweg wieder, der zwischen mächtigen Eichen hindurchführte, und wusste, dass er sich durch ordentlich gepflegten Forst bis zu dem weitläufigen Garten schlängelte, der das große Haus umgab. Obwohl sie zuvor noch der Ansicht gewesen war, sie hätte aus ihren Kindertagen keine klaren Erinnerungen an all dies, erkannte sie es sofort. Sie hielt das Pferd an und starrte eine ganze Weile lang einfach nur auf das Tor und den Kiesweg. Sie war weder aufgeregt noch glücklich über ihre Rückkehr zu diesem Haus. War sie dafür einfach zu müde? Sie empfand nicht einmal große Erleichterung darüber, hier zu sein. Sie musste viel müder sein, als sie selbst gedacht hatte.
Oder von mehr Furcht vor dem Empfang geplagt, den sie vielleicht zu erwarten hatte.
Sobald ihr dieser Gedanke kam, wusste Maianthe, dass er stimmte. Ihr war bewusst, dass die Menschen in diesem Haus sie nicht erkennen würden. Sie fragte sich, ob sie ihr überhaupt Zutritt gewährten. Vielleicht hielten sie Maianthe für eine Hochstaplerin, die sie verspotten und Dinge stehlen wollte, auf die sie kein Anrecht hatte. Oder sie hielten Maianthe womöglich füreine Verrückte, die Berdoens Enkelin und Beraods Tochter und Bertauds Cousine zu sein behauptete, weil … weil … Maianthe konnte sich keinen Grund ausmalen, warum irgendjemand behaupten sollte, Beraods Tochter zu sein. Vielleicht, weil ihre Erinnerungen an den Vater
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