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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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größerem Gewicht nachgab. Zufrieden registrierte Maianthe das Krachen und die Flüche, die sich anschlossen. Aber wie lange benötigten wohl die übrigen Soldaten, aus der Gasse zu laufen und auf der anderen Seite des Hauses aufzutauchen? Lange genug, damit Maianthe hinabklettern und zu einem anderen Versteck laufen konnte? Was für ein Versteck mochte das sein, das die Soldaten nicht schnell fanden?
    Als sie die andere Dachkante erreichte, erblickte sie tatsächlich eine Handvoll Soldaten, die sie schon unten erwarteten, daunter ein Offizier zu Pferd. Zwei der Soldaten hatten Bögendabei, aber der berittene Offizier war es, der ihr Angst einjagte. Ohne auch nur nachzudenken, hockte sich Maianthe hin, riss eine schwere Schindel aus dem Dach und schleuderte sie hinab. Obwohl sie sich gar nicht die Zeit genommen hatte, um zu zielen, folgte die Schindel einer weiten Flugbahn und traf den Mann ins Gesicht.
    Der Linulariner Offizier kippte rückwärts vom Pferd. Maianthe jedoch hatte beim Werfen der Schindel das Gleichgewicht verloren, stolperte zur Seite, versuchte hilflos, sich irgendwo in der Luft festzuhalten, und stürzte vom Dach.
    Sie fand nicht die Zeit für einen Schrei. Aber sie stürzte auch nicht richtig, obwohl sie gar nicht wusste, mit welch anderem Wort man das Geschehen hätte schildern können. Es schien, als folgte sie der Flugbahn der Dachschindel; es schien, als folgte sie dieser Bahn mit einem Gleichgewichtssinn, dessen sie sich gar nicht bewusst gewesen war, bis sie jetzt einen unsichtbaren Luftstrom oder ein ungesehenes Band aus Mondlicht entlangstürzte. Sie fand gar nicht die Zeit, verblüfft zu sein. Sie stürzte – und stand im nächsten Augenblick neben dem erschrockenen Pferd auf dem schlammigen Boden. Das Tier scheute heftig, doch Maianthe packte sogleich den Zügel und schwang sich in den Sattel. Dann riss sie das Pferd herum und ließ es galoppieren.
    Nur ein einziger Soldat versuchte, sie festzuhalten. Er griff aber bei dem Versuch, den Zügel zu packen, ins Leere. Das Pferd rammte ihn mit der Schulter und schleuderte ihn zur Seite, und dann war Maianthe an ihm vorbei. Sie suchte sich einen Weg durch den Irrgarten der letzten verstreuten Häuser der Stadt und jagte dann eine schlammige, mondbeschienene Straße entlang, hinaus ins Sumpfland und die Schlammlöcher des weiten Deltas.
    Sie blickte nicht zurück. Falls ihr irgendjemand folgte, so sah sie ihn nicht.
    Maianthe hielt erst kurz vor der Morgendämmerung an, nachdem sie viele Meilen unwirtlichen und schwierigen Geländes zwischen sich und Tiefenau gebracht hatte. Sie war nicht auf der Straße geblieben, sondern hatte den direkten Weg nach Kames eingeschlagen. Oder zumindest den direkten Weg zu Tan. Sie wusste genau, wo er sich befand. Ungeachtet der Umstände hellte es ihre Stimmung auf, dass sie ihn ein gutes Stück weit im Osten wusste und sie unterwegs zu ihm war. Es fiel ihr schwer, sich die Gründe vorzustellen, warum sie zugelassen hatte, dass er ohne sie nach Osten ritt; und fast unmöglich war es ihr, sich in diesem Augenblick auf den Spuren der Königin unterwegs nach Norden zu sehen oder auf dem Weg zurück gen Tiefenau.
    Die alltäglichen Laute der Sumpfnacht erklangen rings um sie herum: das Plätschern eines Flusses, das Rascheln des Windes im Ried und das Rauschen der Blätter. Zudem knarrte Leder, was durch die Bewegungen ihres müden Pferdes hervorgerufen wurde. Am Himmel stand der Mond tief über den dunklen Umrissen der Bäume. Beiderseits von ihr glomm Wasser wie Metall. Maianthe fror und zitterte; sie spürte die Füße nicht mehr, und die Finger hatten sich um die Zügel verkrampft. Niemand sonst war zu sehen, und wenn sie die Luft anhielt und lauschte, hörte sie keine Menschenseele rufen.
    Vögel hingegen ließen ihre Rufe vernehmen: scharfes Trällern und Schwirren und ein plätscherndes kleines Lied, das schließlich immer höher stieg, bis es über den Klang hinaus in Stille überzugehen schien, um dann jedoch wieder in einem Aufbranden von Tönen herabzusinken. Maianthe wusste, welcher Vogel dieses Lied sang. Es handelte sich um eine kleine, gesprenkelte braune Art mit gelber Kehle. Obwohl sie das Tier im Dickicht nicht sah, fiel ihr auf, dass sie inzwischen Zweige vor dem Hintergrund des erblassenden Himmels ausmachte: Die Morgendämmerung war eingetroffen.
    Es war nasskalt. Obwohl Maianthe Bedenken wegen des Rauchs hatte, entfachte sie ein kleines Feuer. Dampf stieg von Kleidern und Stiefeln auf. Die

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