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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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Stadt entfernt, da war er überzeugt, als dass Passanten Schreie hätten hören können.
    Nun, wo er sich jetzt die Umstände so weit überlegt hatte, stellte sich eine Frage: Warum stand nicht Istierinan längst an diesem hübschen neuen Tisch, darauf all das Werkzeug bereitgelegt, das er womöglich brauchte? Wartete er schlicht ab, bis Angst, Kälte und Erschöpfung Tan geschwächt hatten? Manmusste zugeben, dass die Szenerie dafür perfekt gestaltet war. Die gleitende Kette war ein hübscher Einfall. Wie lange konnte sich jemand auf den Beinen halten, wenn ein Zusammenbruch bedeutete, dass er erwürgt wurde? Lange, dachte Tan, aber nicht ewig, und wenn er schließlich starb, dann hatte er sich seinen Tod in gewisser Weise selbst zugefügt. Ja, eine solche Feinheit entsprach sicherlich Istierinans Geschmack.
    Tan hatte fast sieben Jahre darauf verwandt, für sich – oder eher für den Mann, der er zu sein vorgab – einen Platz am Hof des alten Fuchses in Teramodian zu schaffen. Und davor hatte er Jahre auf anderen vorgetäuschten Lebenswegen in der einen oder anderen Gegend von Linularinum zugebracht. Er hatte es getan, weil er Farabiand liebte, und aus … Na ja, aus vielen Gründen, die ihm damals ausreichend erschienen. Die Arroganz und Willkür Linularinums waren ihm zuwider gewesen; auch das gehörte dazu. Er hatte gefürchtet, was letztlich geschähe, wenn man zuließ, dass der Linulariner König und Hof Farabiand zu verachten lernten. Auch hatten ihm die Kunst des Spionierens und seine eigenen Fertigkeiten darin Freude bereitet. Ein tief in die gegnerischen Reihen eingedrungener Spion führte ein Leben bedächtiger, mühseliger Täuschung, das jedoch durchsetzt war von blitzhellen Augenblicken schrillen Entsetzens, und Tan hätte diese Augenblicke niemals gegen ein Leben in sicherem Wohlstand eingetauscht.
    Und so führte er Jahre lang ein Leben der Täuschung auf Messers Schneide, wie man so schön sagte. Das Messer in diesem Sprichwort verstand man allgemein als Brücke zwischen Verbannung und Tod: das Schicksal von Spionen, wenn sie gefangen wurden. Und Tan war diesem Weg gefolgt, obwohl er in diesen Jahren gelernt hatte, Linularinum nicht weniger zu lieben als Farabiand.
    Jeder Geheimagent rang mit Fragen der Loyalität und desVerrats. Tan hatte vor Jahren seinen Frieden mit diesen Fragen geschlossen. Dabei erwies sich als hilfreich, dass er niemals irgendeine Form der Zuneigung für den alten Fuchs empfunden hatte – Mariddeier Kohorrian, der viel zu viel Wert auf Gerissenheit und die strengstmögliche Interpretation des Rechts legte und nicht annähernd genug auf Gerechtigkeit. Des Weiteren half ihm, dass er in den zurückliegenden Jahren, während er Istierinans Vertrauen gewann, diesen Mann gleichzeitig zu hassen lernte. Der Spionagemeister von Linularinum schien ihm alles zu verkörpern, was Tan an den Menschen dieses Landes störte, und gleichzeitig hatte dieser Mann nichts an sich, was sie an bewundernswerten Eigenschaften besaßen. Istierinan war nicht nur hinterlistig, sondern auch treulos, nicht nur berechtigterweise stolz auf seine Fähigkeiten, sondern auch voller Verachtung für die anderer; und er erwies sich als verschlagen und grausam, selbst wenn er nach außen hin freundlich auftrat.
    Vielleicht waren Stille und Kälte genau die Rache, die Istierinan vorschwebte. Vielleicht kam ja niemand, um Tan zu verhören, nicht mal, um ihn zu bewachen oder sich an ihm zu weiden. Eine ungemütliche Vorstellung, auf ihre Art noch schlimmer als, na ja, andere Vorstellungen. Vielleicht setzte Istierinan die Zeit selbst als eine feinsinnige Waffe ein, damit Tan unter widerstreitenden Befürchtungen litt – sowohl der, dass jemand kam, als auch der, dass niemand kam. Er würde die Zeit haben, einen Fluchtversuch zu unternehmen und dabei zu scheitern – seine Kraft sinnlos zu verausgaben, während die Würgekette unterdessen nur darauf lauerte, sich zuzuziehen, sobald er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte …
    In diesem Augenblick jedoch war Tan nicht so verzweifelt, dass er sich die Ankunft seiner Feinde gewünscht hätte. Er drehte den Kopf und dann vorsichtig schlurfend den ganzen Körper, so weit es die Ketten zuließen, und nahm dabei das Lagerhaus näher in Augenschein. Keine Fenster, keine erkennbare Tür. Das goldene Licht des späten Nachmittags fiel von der Seite her durch fehlende Bretter weit oben am Dach herein. Das Bauwerk war also nicht in gutem Zustand. Er müsste

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