DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
so fürchterlich kalt war.
Ein Dutzend kleine, robuste Hühner und ein weißgefiederter Hahn pickten rings um die Hütte und nutzten so die relative Wärme. Eine langbeinige Ziege mit lohfarbenem Fell stand in der Sonne und starrte nachdenklich in die weitläufige Landschaft unterhalb der Hütte. Oberhalb der Hütte hockte ein Vogel auf einer abgebrochenen Felskante und sang mit einer Stimme, die wie Funken eines Freudenfeuers in die stille Luft aufstieg.
Der Vogel war ungefähr so groß wie ein gewöhnlicher Häher – wie jener grau und schwarz gefiederte Häher, der sich manchmal auf diese hohen Wiesen wagte. Dieser Vogel war jedoch kein Häher oder irgendetwas dieser Art. Er war mit Feuer gefiedert. Der Kopf war orangefarben mit schwarzen, ascheähnlichen Streifen über den Augen. Die Brust leuchtete golden; die Flügel waren orangefarben und karmesinrot, die langen Schwanzfedern karmesinrot und golden. Wenn er sang, vibrierte seine Kehle, und Funken regneten auf das glitzernde Eis unterhalb seines Platzes hinab. Wenn er davonflog, was er jeweils ganz unvermittelt tat – blitzschnell in die Höhe und wieder herab und nach Osten und Norden davon –, wirbelten Flammen unter dem Schlag seiner Flügel in der Luft.
Der Vogel kam nicht jeden Tag zur Hütte. Manchmal jedoch, besonders an Nachmittagen wie heute, wenn die Luft glänzend und still wie Glas war, kam er und sang für Jos. Jos, der nur wenige Besucher empfing, dachte gern, dass der Vogel aus seinen Flügeln ebenso Glück verstreute wie Flammenfunken. Er betrachtete jeden Tag, an dem der Vogel auftauchte, als Glückstag. Und als Jos gerade in seiner Tätigkeit innehielt – die Hände voller Körner für die Hühner –, dachte er, dass Glück heute eine gute Sache wäre.
Tief unter der Hütte, aber noch gut sichtbar, ragte das westliche Ende des Großen Walles auf. Jos bezeichnete ihn so: denGroßen Wall. Es war unmöglich, diese Konstruktion nicht dermaßen hervorgehoben zu benennen, wenn man sie an jedem klaren Tag vor Augen hatte. Der Wall beherrschte seine Welt noch mehr, als es die zerklüfteten Gipfel dieser wilden Berge taten. Er bestand aus gewaltigen Granitblöcken, herausgeschnitten aus dem Herzen eines Berges … In Wahrheit mehr als nur eines Berges, denn dieser Wall reichte weit über zweihundert Meilen von hier bis zu seinem anderen Ende im Osten, das ihn verankerte. Südlich des Großen Walles breiteten sich die wilden Waldeshöhen, die ausgedehnten fruchtbaren Ebenen und die reichen, dicht bevölkerten Städte Casmantiums aus, wo Jos geboren worden war. Im Norden lag die Wüste.
Die Greifenwüste war in der Größe nicht mit Casmantium vergleichbar, aber wenn Jos von dieser Position aus auf beide hinabblickte, war das für ihn nicht erkennbar. Die Wüste zog sich auf der anderen Seite die Berge hinunter und dann immer weiter, bis über sein Blickfeld hinaus: roter Sand und messerscharfe rote Felsen; geschmolzenes Licht, dick wie Honig und schwer wie Gold; Winde, die von Sand zischten und von Feuer flackerten. Auf der Nordflanke des Walls, der Wüstenseite, brannte ein hartes, strahlendes Feuer, so hell, dass es schmerzhaft war, wenn man es direkt anblickte. Die andere Seite – die der Erde zugewandte Seite – war mit einer Eisglasur überzogen und von Nebelschwaden verhüllt. Über der Mauer bis hinauf zum Himmelsgewölbe schimmerte die Luft, denn der Wall war mehr als eine physische Barriere. Er versperrte jeder geflügelten Kreatur des Feuers und der Erde so wirkungsvoll den Weg wie den am Boden lebenden Geschöpfen.
An zwei Stellen, wo der Wall rissig geworden war, stiegen gewaltige Dampfwolken zum Himmel hinauf.
Nach dem Ausmaß an Dampf zu urteilen, hatten sich die Risse heute nach Jos’ Einschätzung nicht vergrößert. Zumindestnicht sehr. War das Glück? Oder hatte Kes heute etwas Besseres zu tun gehabt, als die Risse weiter aufzuhebeln und den Großen Wall niederzureißen, um zu versuchen, sich zum Land der Erde hindurchzubrennen? Er spähte vorsichtig in den brennenden Himmel über dem Land des Feuers, aber er sah keine Greifen auf den heißen, gefährlichen Winden fliegen. Vielleicht hatten sie sich alle von diesen Winden zurück ins Herz ihres Landes tragen lassen. Vielleicht war Kes mit ihnen geflogen. Vielleicht hatte Kes diesen Wind heraufbeschworen: einen Wind, der das Volk, dem sie sich angeschlossen hatte, forttrug von dem Wall, der es einsperrte …
Wahrscheinlicher war, dass die Greifen einfach eine
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