DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
ein Kurier und trüge einen weißen Stab und die Vollmacht eures Königs.
Bei der Vorstellung von dem Greifen als offiziellem Kurier Farabiands musste Jos lächeln. Er wandte das Gesicht ab, um ihm diese Miene nicht zu zeigen. In Farabiand waren praktisch sämtliche Kuriere Mädchen von wohlanständiger, aber nicht hoher Geburt; sie neigten dazu, eine fest eingeschworene Gemeinschaft zu bilden, heirateten die Brüder und Vettern anderer Kurierinnen, sobald sie sich aus dem aktiven Dienst zurückzogen, und erzogen ihre Töchter ebenfalls zu Kurierinnen. Und alle von ihnen, denen Jos je begegnet war, hatten leidenschaftlichen Stolz auf ihre Berufung gezeigt. Wie auch immer Kairaithin den geleisteten Dienst betrachtete – und es erschien Jos sowohl ein kluger als auch sehr bescheidener Dienst … Nun, Jos glaubte den Greifen gut genug zu kennen, um sicher zu sein, dass dieser nicht stolz auf diese Tätigkeit war.
Jos fragte sich, ob sich Kairaithin vielleicht gar seiner Rolle bei Errichtung des Walls schämte – und ob er sich auch dafür schämte, erneut dem Willen seines Volkes getrotzt zu haben, als er Nachricht von der Beschädigung des Walls den Mächtigen unter den Menschen überbrachte. Wäre Kairaithin ein Mensch gewesen und nicht ein Greif, dann hätte Jos – besonders Jos, alles in allem – vielleicht sogar eine Möglichkeit gefunden, ihn darüber zu befragen. Doch selbst wenn sich Kairaithin in Menschengestalt zeigte, war er nicht im Mindesten ein Mensch. Jos wusste keine Möglichkeit, eine solche Frage an den grimmigen,stolzen und undurchschaubaren Greifen zu richten, welche Gestalt dieser auch immer gerade trug. Und so fragte er nur: »Wann treffen sie hier ein?«
Der Greif drehte den schmalen Adlerkopf und blickte ihn an.
Er war zornig, erkannte Jos. Der schwarze Blick des Greifen enthielt so viel Kraft, dass Jos schon halb erwartete, der Granit des Berges würde unter diesem Blick bersten und zersplittern. Jos hinderte sich mit schierer Willenskraft daran, einen Schritt weit zurückzuweichen. Dabei half ihm seine Gewissheit – nun, es war beinahe Gewissheit –, dass der Zorn des Greifen nicht ihm galt.
Bald, sagte Kairaithin. Innerhalb einer Stunde.
»Oh.« Jos war gar nicht klar gewesen, dass der Greif »jetzt gleich« gemeint hatte, als er davon sprach, König Iaor und Fürst Bertaud kämen hierher. Jos blickte sich unsicher auf der Wiese um und dann den Hang hinab, wo jeden Moment Reiter um eine Biegung des Berges zum Vorschein kommen konnten. Er wusste nicht, was Kairaithin im Sinn hatte, aber er war beinahe absolut sicher, dass er selbst weder dem König noch Bertaud noch sonst jemandem in ihrer Gruppe begegnen wollte. »Ich könnte gehen … Ich könnte irgendwohin gehen, denke ich.« Er wusste jedoch nicht, wohin. Er würde den Schutz der Hütte brauchen, wenn es dunkel wurde.
Du wirst hier bleiben. Du wirst für mich sprechen, erklärte der Greif.
Jos starrte ihn an. »Das werde ich? Was könnte ich denn sagen?«
Was dir in den Sinn kommt. Dann jedoch zögerte Kairaithin, und Jos wurde klar, dass der Greif nicht so arrogant war, wie dieser Befehl den Anschein erweckte – dass er in mancher Hinsicht sogar richtig unsicher war. Er fuhr fort: Bertaud, Sohn von Boudan, kennt mich … wie nur irgendein Mensch mich kennt. Du jedoch b lickst schon auf diesen Wall hinab, fast seit er errichtet wurde, und du kennst ihn gut. Außerdem kennst du Kes.
»Nicht mehr«, entgegnete Jos grimmig.
So gut wie nur irgendeine lebende Kreatur. Besser als ich, denke ich. In mancher Hinsicht besser als ihre Iskarianere. Ich möchte, dass du dem König der Menschen und seinem Volk erklärst, was du weißt. Es ist besser, wenn ein Mensch zu Menschen spricht.
Die Überzeugung, dass der König von Farabiand auf Jos hören würde, von allen Menschen, verriet einen gewissen übersteigerten Optimismus, der mit einem völligen Mangel an Verständnis dafür verbunden war, wie Menschen Entscheidungen trafen. Oder möglicherweise zeigte es auch – dessen wurde sich Jos düster bewusst –, wie gefährlich die Lage war, wenn Kairaithin dachte, dass ungeachtet aller anderen Faktoren der König von Farabiand sich tatsächlich genötigt sehen würde, einem casmantischen Spion respektvoll zuzuhören … Genauer gesagt einem ehemaligen casmantischen Spion, einem Verräter am eigenen König, einem Mann, der das eigene Volk eines Farabiander Mädchens wegen verraten hatte. Und der – die Krönung des
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