Der Grenzgänger
wieder ein, dass ein Stadtdirektor kurz nach der Wahl eines hauptamtlichen Bürgermeisters aus seinem Amt abgeschoben wurde, weil er trotz des richtigen Parteibuches dem Bürgermeister und dessen Freund, seinem Nachfolger als Stadtdirektor, im Wege stand.
Dennoch schien es in dem Roman nichts zu geben, dass auf eine ganz bestimmte Person oder politische Konstellationen schließen ließ. Die Geschichte konnte sich überall und nirgends abgespielt haben, aber auf keinen Fall in Stolberg, der vermeintlichen Kulisse von Fleischmanns Romanwelt. Wenn die Geschichte aber ganz oder teilweise einen Bezug zur Wirklichkeit haben sollte, dann hatte Fleischmann bestimmt versteckte Hinweise hinterlassen, sagte ich mir.
Ich war intellektuell nur nicht in der Lage, sie zu finden.
Auch die Namen der Bösewichte brachten mich höchstwahrscheinlich nicht weiter. Ich nahm mir vor, sie überprüfen zu lassen, glaubte aber nicht daran, durch die Überprüfung auf eine Erfolg versprechende Spur zu stoßen. Gewiss hatte die Polizei diesbezüglich auch schon ihr Glück versucht.
Eigentlich hatte ich nur eine Winzigkeit gefunden, die höchstwahrscheinlich auf ein oberflächliches Redigieren der Endfassung zurückzuführen war. Einmal war im Verlaufe der spannenden Geschichte der Vorname des Bürgermeisters falsch geschrieben worden. Statt „Günter“ gab es ein einziges Mal ein „Günther“ und damit ein „h“ zu viel.
Aber derartige Flüchtigkeitsfehler bei der Bearbeitung fanden sich immer häufiger in neuen Büchern. Das prägnanteste Beispiel war mir in einer Biografie über einen ehemaligen Trainer der Fußballnationalmannschaft aufgefallen: „es viel auf“, war dort in einem Werk zu lesen, das ein angesehener Redakteur eines großen Nachrichtenmagazins verfasst hatte.
Tief pustete ich durch, als ich das Buch zur Seite legte. Es war spät geworden. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass Böhnke das Licht im gemütlichen Wohnzimmer angeschaltet hatte.
Der Kommissar saß nach wie vor in seiner Ecke. Ungläubig schüttelte er mehrmals während des Lesens den Kopf. „Verfluchter Mist“, hörte ich ihn sagen, als er den Ordner auf seinen Knien ablegte und sich müde über die Augen rieb. Er sah geistesabwesend durch mich hindurch und griff dann wieder nach dem Text „Verfluchter Mist“, sagte er noch einmal. „Was gibt’s?“ Ich konnte mich nicht zurückhalten.
Böhnke starrte gedankenversunken in meine Richtung. „Das kann doch nicht wahr sein“, sagte er endlich nach langen Minuten. Er bemühte sich, ruhig und gelassen zu wirken, aber ich sah ihm an, dass er innerlich aufgewühlt war. Er überlegte intensiv, ehe er sich durchringen konnte, meine Frage zu beantworten. „Diese Geschichte ist von der ersten bis zur letzten Zeile wahr, wenn ich einmal vom Ende absehe“, sagte er schließlich. „Wenn sie erscheint, bevor wir zugreifen, wird die Aufklärung eines der größten Verbrechen der Gegenwart in unserer Region vereitelt.“ Der Kommissar bemühte sich um Fassung und schüttelte den Kopf. „Fleischmann schreibt haargenau über ein Verbrechen, dem wir schon seit Monaten auf der Spur sind. Aber es fehlt uns leider der endgültige Beweis, um die Ganoven dingfest zu machen.“
„Worum handelt es sich?“ Böhnke machte mich neugierig. In einer derart verunsicherten Haltung hatte ich ihn in unserer bisherigen, an Zwischenfällen wahrlich nicht armen Zusammenarbeit höchst selten erlebt.
Der Kommissar verzog seinen Mund zu einem verkniffenen Spalt und reichte mir den Roman über den Tisch. „Lesen Sie“, sagte er nur gähnend, dann stand er ächzend auf. „Ich muss mich hinlegen und schlafen.“
„Muss das sein?“ In Anbetracht der vierhundert, dicht beschriebenen Seiten stand mir nicht der Sinn danach, am späten Abend mit der Lektüre zu beginnen. „Erstens muss ich noch die anderen Romane lesen und zweitens bin ich auch müde.“
Böhnke rang sich ein Lächeln ab. „Muss nicht sein, mein junger Freund. Ich kann Ihnen die Geschichte auch nach dem Frühstück bei einem Spaziergang erzählen.“
Fleischtransport
Was Böhnke als Spaziergang bezeichnet und ich als gemütliche Schlenderei interpretiert hatte, entpuppte sich als Gewaltmarsch, von dem sich mein Mitstreiter nicht abbringen ließ. „Ich brauche unbedingt Bewegung und Frischluft“, sagte er, bevor wir uns am frühen Morgen auf den kilometerlangen Weg talabwärts nach Hammer und von dort die Rur entlang nach Monschau
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