Der Grenzgänger
allein erarbeitet. Es tat mir Leid, dass sie so viel Pech hatte. Zugleich entwickelte ich Sympathie für die Lektorin, als ich las, dass sie auch als freie Mitarbeiterin beim ,Dürener Lokalanzeiger’ gearbeitet hatte. Das musste zu der Zeit gewesen sein, als auch ich in Düren gelebt hatte. Aber ich konnte mich jetzt nicht daran erinnern, Renate Leder damals zur Kenntnis genommen zu haben.
Betroffen legte ich die Dokumentenmappe ab und griff nach einem Fotoalbum. Es enthielt ausschließlich Bilder von ihr, von den Babyjahren angefangen bis hin zur aktuellen Zeit. Das letzte Foto zeigte sie zusammen mit Fleischmann. Nach dem Motiv und dem Hintergrund zu schließen, war das Bild bei einer Buchvorstellung in einer Buchhandlung gemacht worden. Die Lektorin lachte; es war das erste und wahrscheinlich auch das letzte Mal, dass ich sie lachen sah. Auf dem Bild sah sie wirklich niedlich aus, so hätte ich sie gerne einmal kennen gelernt. Aber dazu war es vielleicht zu spät.
Mit dieser Erkenntnis legte ich die Fotosammlung beiseite und wandte mich dem Schreibtisch zu, auf dem auf einer Unterlage gerade einmal Platz genug war, um einen Block aufzuklappen. ,Was hatte Renate gewollt, als sie bei meinem ersten Besuch zum Schreibtisch gegangen war, aber dann ihre Ansicht aufgab?’, fragte ich mich, während ich mich setzte.
Der Rest der Platte war mit Büchern belegt. ,Weg damit!’, entschied ich und schob die Bücherstapel zu Boden. Ich brauchte Platz um mich herum.
Neugierig öffnete ich die einzige Schublade des einfachen Tischs. Darin befanden sich der Reisepass, leere Blätter und unzählige Kugelschreiber sowie ein frischer Kontoauszug der Stadtsparkasse, der der Lektorin ein bescheidenes Soll bescheinigte. Anscheinend kam Renate mehr recht als schlecht über die Runden.
Bei meinem Blick auf die heruntergeworfenen Bücher bemerkte ich zunächst ein dünnes Heft, das in zweierlei Hinsicht nicht hierhin passte. Zwischen all diesen Büchern war ein Heftchen einfach fehl am Platze. Aber auch der Inhalt widerstrebte mir: Es handelte sich um ein Pornoheftchen, reichlich bebildert und mit kurzen Geschichten betextet. So etwas hätte ich meiner Mandantin nie zugetraut. Dann stieß ich auf beschriebene Blätter, die zuvor zwischen zwei dicken Wälzern verborgen gewesen waren. Neugierig bückte ich mich danach und warf das erste Blatt nach einem flüchtigen Überlesen wieder fort. Es war mit mehreren Strichen durchkreuzt worden, enthielt aber, wie ich beim Vergleich mit dem anderem erkannte, offenbar die gleichen Notizen.
Das Blatt stellte wahrscheinlich den ersten Entwurf eines Gedankenkonzeptes dar, das die Lektorin auf dem zweiten Blatt vollendet hatte. Die durch Striche verbundenen und mit Kreisen umrandeten Buchstaben ähnelten einem Soziogramm, mit dem ich allerdings nichts anfangen konnte. Selbst wenn ich „F“ als Fleischmann deutete, „W“ als Wagner und „L“ als Leder, blieben viel zu viele Buchstaben für mich ohne Bezug. Was sollte beispielsweise das „G“, was ein anderes „L“? Eine Verbindung fiel sofort auf, weil sie mit einem dicken, schwarzen Filzstift eingekreist worden war: die Verbindung von „D“ mit „S“, was immer das auch bedeuten sollte.
„Woher soll ich das denn wissen?“, fragte mich Böhnke, als ich ihn am Abend über meine Nachforschungen in der Wohnung der Lektorin unterrichtete. „Vielleicht ist das Gebilde auch nur das Schema für einen Roman oder die Lösung eines Rätsels aus der Beilage der ‚Süddeutschen Zeitung’.“ Und was das Pornoheft angehe, so könne er mir für sein Vorhandensein in dieser Wohnung keine vernünftige Erklärung anbieten. Dennoch erklärte er sich bereit, dass Heft zu den Akten zu nehmen.
Ich würde ihm für die konstruktive Zusammenarbeit danken, knurrte ich unzufrieden ins Telefon. Er sei mir wahrlich eine große Hilfe. Ob er keine sinnvollere Erklärung für dieses seltsame Buchstabenrätsel auf Lager hätte, wollte ich wissen.
Aber Böhnke verneinte und lachte nur bedauernd: „Mein Freund, es war einen Versuch wert. Sie hätten ja etwas in der Wohnung finden können, was uns und insbesondere Sie weiterbringt. Aber anscheinend war Ihr Besuch für die Katz!“
Mit dem Ausblick auf unsere bevorstehende Fahrt nach Huppenbroich beendete der Kommissar das unbefriedigende Gespräch.
Verunsichert betrachtete ich das von Renate mit Strichen und Buchstaben bedeckte Blatt. Was hatte sie damit ausdrücken wollen? Hatte
Weitere Kostenlose Bücher