Der Grenzgänger
es versuchen.
Je länger ich auf das Blatt starrte, umso mehr verstärkte sich mein Eindruck, Renate habe sich tatsächlich an einem Soziogramm versucht, dessen Zentrum in einer Verbindung zwischen „D“ und „S“ bestand. Aber wer waren die beiden Figuren „D“ und „S“?
Ich wollte Böhnke nicht in meine Überlegungen einweihen. Dieses Spiel wollte ich für mich alleine spielen, jedenfalls zunächst. Vielleicht lief ich ja auch nur einer irrigen Annahme nach. Ich hätte einiges drum gegeben, von Renate zu erfahren, was sie mit dieser Aufzeichnung bezweckt hatte. Einen Grund musste sie gehabt haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand ohne Sinn und Verstand Buchstaben auf ein Blatt verteilt und diese dann wahllos miteinander verbindet.
,Renate, du raubst mir noch den Schlaf, sagte ich laut in den Raum hinein, bevor ich mich unter die Bettdecke kuschelte.
Fehlerteufel
Mit der unerwarteten Mitteilung, er müsse unbedingt für ein paar Stunden nach Aachen, überraschte mich Böhnke bei der Vorbereitung unseres Mittagessens aus der Dose. „Ich muss mir die Ermittlungsakte über den ,Metzger-Fair besorgen“, erklärte er mir, „ich möchte gerne konkret unsere Ermittlungsergebnisse mit Fleischmanns Geschichte vergleichen.“
Er solle ruhig fahren, redete ich Böhnke zu. Ich hätte genügend zu tun, meinte ich mit einem Fingerzeig auf die Bücher. „Nur eine Bitte habe ich: Bringen Sie die AZ mit.“ Ich verspürte keine Lust, allein durch die Landschaft zu laufen, um mir in Simmerath oder Imgenbroich eine Tageszeitung zu besorgen.
Böhnke hatte es offensichtlich eilig. Ehe ich mich versah, hatte der Kommissar die Ravioli verschlungen, saß im Wagen und fuhr davon.
Ich machte es mir im Wohnzimmer vor dem Kachelofen bequem. Obwohl wir erst Oktober hatten, war es schon ungemütlich kalt in der Eifel. Der mit Buchenscheiten befeuerte Kachelofen strahlte die behagliche Wärme aus, die ich brauchte, um konzentriert mit Fleischmanns Werk arbeiten zu können.
Wie in Fleischmanns Erstling, so blieb ich auch im zweiten Buch, das seinen Ausgang im plötzlichen Ableben eines Jahrmarktbeschickers hatte, beim Lesen bei den wenigen und deshalb auffälligen Schreibfehlern hängen. Sie waren im Prinzip die einzigen Mängel, die ich in dem Werk finden konnte, von einer technischen Angelegenheit einmal abgesehen. Dieser Roman war in einer anderen Druckerei hergestellt worden. Aber nach einem Blick in die Folgebücher stellte ich fest, dass lediglich das erste Werk in einer Druckerei in Niederkrüchten, alle anderen dagegen in Eschweiler gedruckt worden waren. Wahrscheinlich hatte diese Druckerei günstigere Herstellungskosten angeboten als die erste, vermutete ich. Bei passender Gelegenheit würde ich mir von Wagner die Bestätigung meiner Vermutung holen, nahm ich mir vor.
Bei der Schreibweise von Aachen hatte Fleischmann offenbar Probleme. Mehrfach fehlt ein „a“. Beim Kontrollieren der Satzfahnen hatte sowohl er als auch die Lektorin das mehrmalige „Achen“ überlesen. Aber auch dieser Fehler war erklärlich: Wenn ich etwas immer wieder lese, dann erkenne ich es als richtig, obwohl es falsch geschrieben ist.
Beim dritten Roman konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Ich fand einfach nichts, nicht einmal einen Schreibfehler, einen Verdreher, geschweige denn Fakten oder Hinweise, die auf bestimmte Personen oder Verhaltensweisen aufmerksam machen konnten. Ich stolperte nur über allenfalls einen grammatikalischen Streitfall, ob es nämlich „des Buchs“ oder „des Buches“ hieß. Aber das war wirklich ein Problem nur für Germanisten, nicht für Leser.
Der Roman war schlichtweg perfekt. Falls er eine wahre Begebenheit in veränderter Form wiedergab, hatte Fleischmann optimal gearbeitet.
Im vierten Roman fand ich ein im Text freistehendes „r“. Ansonsten war der Roman wieder ein Genuss sondergleichen.
Mehr und mehr fand ich Gefallen an diesem Autor, dessen schriftstellerische Karriere schon wieder zu Ende war. Ich hätte Fleischmann gerne kennen gelernt. Zugleich zollte ich Renate Leder Anerkennung. Sie hatte offenbar ein Juwel an der Hand gehabt und ich verstand mittlerweile, weshalb sie sich Sorgen um Fleischmann gemacht hatte. Im Nachhinein musste ich der Lektorin Abbitte leisten. Ich hätte sie vielleicht doch nicht so brüsk abweisen sollen. Jetzt saß ich gewissermaßen in der Tinte und versuchte, Renate bei einer Sache zu helfen, von der ich nicht einmal wusste,
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