Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
sich an den Rhythmus elementarer Gegensätze: Auf und Ab, Tag und Nacht, Wärme und Kälte. Leben oder Tod. Sein oder Nichtsein.
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Die Schildkrote
Der Pfad setzte sich durch den Wald fort. Er hielt sich an den Abhang des Tals, der oft steil und nass war. Melissa stürzte einmal sehr heftig von einem rutschigen Felsvorsprung, aber ihre Landung wurde von ihrem Rucksack abgefedert. Ich kam um eine Biegung und fand sie rücklings in einer Pfütze vor. Sie zappelte hilflos mit Armen und Beinen in der Luft wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Der Anblick war zum Totlachen. „Verdammt, hör auf zu lachen und hilf mir hoch“, blaffte sie.
Im Gebirge war Melissa ein anderer Mensch. Unter ihrem zierlichen Körperbau verbargen sich Kraft und Ausdauer, und zwar sowohl seelisch als auch körperlich. Melissa gab niemals auf. Probleme weckten bei ihr die instinktive Reaktion zu kämpfen, aber niemals den Impuls aufzugeben.
„Das liegt an meinem schottischen Blut“, erklärte sie. „Zum Beispiel mein Vater. Er kommt aus Dundee und ist ein kleiner, streitlustiger Bastard aus der Arbeiterklasse. Er sucht ständig Streit. Ich bin genauso. Ich sehe nur besser aus. Ich weiß noch, als ich zum ersten Mal nach Dundee kam. Die ganze Stadt ist voller kleinwüchsiger wütender Männer, die Streit suchen.“
Mit Peter, dem Lehrer, hatte sie die Berge entdeckt. Er war mit ihr Eiswände hochgeklettert, über Gletscher gewandert und hatte mit ihr in Blizzards gezeltet. Sie liebte das. Sie liebte es, an wilden Orten zu sein, an denen man sich frei fühlt. Sie liebte die körperliche Herausforderung, mehrere Tage am Stück zu laufen. Und sie liebte die geistige Herausforderung des Hochgebirges – auf sich selbst gestellt zu sein und sich bei Regen, Nebel und Kälte durchzuschlagen. „Jedenfalls“, sagte sie, „kann ich nur durch Sport und Natur ohne Heroin auskommen.“
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Mini - Nippon
In der letzten Nacht unserer Tour erreichten wir das Haus des Japaners. Er war vor 22 Jahren nach Bolivien gekommen und hatte vorher 20 Jahre in der japanischen Marine gedient. Er sagte, es würde ihn an seine Kindheit in seiner Heimat in den Bergen erinnern. Er war ein kleiner, stil er, nervöser Mann, der kein Englisch und nur wenig Spanisch sprach. Hoch auf diesem abgelegenen Berghang, mit nur ein paar Indianer-Familien als Nachbarn und einem Rudel kleiner, kläffender Hunde als Kameraden, hatte er dieses Haus gebaut.
Er baute sein eigenes Essen an und hatte seinen perfekten japanischen Garten liebevoll gestaltet, mit Bonsai-Bäumen und Miniatur-Brücken über Miniatur-Flüssen. Ein Miniatur-Japan. Nach 40 Jahren gab es keine Rückkehr in die echte Heimat.
Er zeigte uns seine Postkarten-Sammlung von Wanderern, die ihn früher schon besucht hatten. Ihn zu besuchen war schon zu einer Art Tradition geworden. Dann verschwand er in seinem Haus. Wir sahen ihn nicht mehr wieder. Die Aussicht von seinem Garten war umwerfend – man sah die Täler hinauf, durch die wir gekommen waren. Feine Wolkensträhnen drifteten unter den bewaldeten Bergkämmen; weiße Berggipfel ragten darüber in den Himmel. Das Haus schien in einer abgeschiedenen Welt über den Wolken zu driften. Wie es wohl war, hier Tag für Tag zu wohnen? Am nächsten Tag überquerten wir eine Reihe von Flüssen. Die Fußgängerbrücken waren vom Hochwasser weggeschwemmt und durch gefällte Baumstämme ersetzt worden, die hoch über rasendem weißem Wasser balancierten und die man am besten überquerte, ohne hinabzusehen. Wir hatten so viel an Höhe verloren, dass wir nicht nur morgens kein Eis auf dem Zelt hatten, sondern der Schweiß förmlich an uns herabtropfte.
Es war eine gewaltige Veränderung. Es gab zunehmende Anzeichen von Leben und Menschen. Am Nachmittag wurde ich von einem Hund gebissen. Melissa hatte mich geneckt, weil ich Hunden gegenüber sehr vorsichtig war. Als ein kleiner Schoßhund schrill kläffend aus einem Haus heraus auf uns zu rannte, beschloss ich, ihm männlich ins Auge zu sehen. Immerhin war er nicht größer als ein Fußball – ich hätte ihn in das nächste Tal kicken können.
„Zeig ihm, wer der Boss ist“, sagte Melissa. Ich schritt forsch den Pfad entlang. Er sprang an mir herauf und biss mich in die Wade. „Du hast ihm nicht gezeigt, wer der Boss ist“, betonte Melissa ziemlich überflüssigerweise.
Wir erreichten die Straße und fuhren die letzten paar Kilometer nach Coroico mit dem LKW.
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