Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika
Kieselstein, den man in einer Höhle ins Wasser wirft.
Unsere zweite Nacht war Sylvester, was wir, um eine flackernde Kerze sitzend, mit ein paar Flaschen Aguardiente feierten, die wir extra für diese Gelegenheit gekauft hatten. Mitternacht ging vo-rüber. Alle schliefen – außer Mark und mir. Mark ging spazieren. Nach einer Weile kam er zurück und winkte mir, ihm auf dem Pfad in den Wald zu folgen. Beim Gehen spürte ich die uns umfangende Gegenwart von millionen Pflanzen. Ich zögerte, da ich befürchtete, dass Schlangen und Jaguare in der Nähe sein konnten.
Aber Mark war bereits ein Stück weiter den Pfad entlang gegangen, der vom flachen Hügel, auf dem unser Camp stand, abwärts verlief. Wir gingen weiter, bis das Mondlicht von unserer Lichtung nicht mehr durch den Wald drang. Dunkelheit.
„Vielleicht ist das meine Aufgabe auf dieser Reise. Dich ein kleines bisschen weiter zu treiben“, flüsterte Mark aus der Schwärze neben mir. Der Wald knisterte von Zikaden und Vogelrufen. Die Pflanzen wiegten sich sanft. Ich fühlte mich, als wenn wir in eine riesige Lunge gegangen wären – warm, feucht und organisch. Pulsierend vor Leben.
„Das ist der Gipfel der Artenvielfalt“, schwärmte Mark. „Im Radius von einer Meile könnte es eine Million verschiedene Lebensformen geben. Alle kämpfen gegeneinander, verdrängen sich gegenseitig, zehren voneinander, leben in Symbiose mit anderen. Nenn mir irgendeine Art – wahrscheinlich ist sie irgendwo dort draußen, ganz in der Nähe. Jede denkbare Überlebensstrategie – in der Nähe ist bestimmt ein Lebewesen, das gerade jetzt genau das macht. Stell dir vor, man würde die Welt nach dem Grad des Bewusstseins ‚kartographieren‘. Jedes Lebewesen ist ein Punkt, der heller oder dunkler ist, je nach dem, wie komplex es ist. Menschen, Tiere, Insekten. Sogar eine Pflanze hat ein Bewusstsein, in gewissem Sinne. Sie reagiert auf ihre Umwelt, und das ist nichts anderes als Bewusstsein – auf einer sehr einfachen Stufe. Die Fähigkeit, Impulse zu absorbieren und darauf zu reagieren. Überall um uns her – Millionen kleine Bewusstseinspunkte. Es kann auf dem Planeten kaum einen Punkt geben, der ‚bewusster‘ ist als dieser. Deshalb ist dies“, so schloss er mit einer erhabenen Geste, „ist das Zentrum der Erde.“
Als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnten, wurden wir, halb sichtbar und halb fühlbar, der Umrisse des Waldes gewahr. Im Unterschied zu Waldgebieten in gemäßigten Zonen, die normalerweise von ein oder zwei Baumarten dominiert werden, besteht in tropischen Wäldern eine explodierende Zahl von Arten, von denen manche nur in einem einzelnen Gebiet von ein paar Kilometern zu finden sind.
Allein in Ecuador hat man mehr Arten von Vögeln, Insekten und Pflanzen nachgewiesen als in ganz Europa oder Nordamerika. Wir kehrten zur Unterkunft zurück. Während ich einschlief, hörte ich dem Telefon-Vogel zu. Alles fühlte sich gut an. Bald begannen wir wieder, uns gegenseitig zu beschimpfen. Diesmal war es sogar schwierig zu sagen, worum es überhaupt ging. Wir hatten den Vormittag damit verbracht, Delfin beim Speerfischen zuzusehen.
„Es ist schon komisch, wie der Speer im Wasser geknickt aussah“, sagte Melissa, als wir wieder zurück waren. „Es ist überhaupt nicht ‚komisch‘“, sagte Mark. „Das kommt von der Brechung des Lichtspektrums an der Wasseroberfläche. Grundkenntnisse der Physik.“ „Ja, die, äh, Reflektion“, sagte Melissa abwesend. Das brachte Mark auf die Palme. Melissa war durchaus in der Lage, sich wichtige Dinge zu merken, z.B. dass sie lieber hier sein wollte als in London, oder welche Sonnencreme sie nehmen sollte. („Sehen wir der Realität ins Auge“, sagte sie. „Wenn ich so eine Haut hätte wie du, würde ich nie einen neuen Freund finden.“) Aber wenn es um abstrakte Ideen und Wissenschaft ging, schaltete sie ab. Für Mark war das ein rotes Tuch. „Anscheinend findest du es gut , dich absichtlich dumm zu stellen“, schnappte er.
„Vielleicht ist es das. Der intelligenteste Mensch auf der Erde zu sein hat dich schließlich auch nicht weit gebracht, oder?“ Wenn es etwas gab, was Mark auf die Palme brachte, dann waren es Leute, die nicht die Macht der Logik und der Wissenschaft akzeptierten – und zwar vor allem deshalb, weil sie dann nicht einmal erkennen konnten, dass er überhaupt Recht hatte. Hier waren Mark und Melissa in eine Sackgasse geraten – denn wenn es etwas gab, was Melissa aufregte, dann
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