Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika
ist das?“ „Verdammt nochmal, Melissa, ich hab‘s dir schon einmal gesagt. Es heißt Animismus, nicht Animalismus. Aus dem Lateinischen, anima, das bedeutet „Seele“. Ich glaube, du verwechselst das ab sichtlich, nur um mich zu ärgern.“ „OK, erklär‘s mir doch. Was ist dieser ‚Animismus-von-dem-la teinischen-Wort-für-Seele‘ auf Englisch?“
„Siehst du, du kannst doch zuhören. Falls du dich erinnerst, Animismus ist im Prinzip die Anbetung der Natur. Es scheint eine mehr oder weniger universelle erste Religion in der ganzen Welt ge wesen zu sein, aber heute existiert sie nur noch dort, wo das Leben immer noch von der Natur bestimmt wird. Jagd, Vulkane, Dürre, Überschwemmungen und so weiter. Es ist keine organisierte Religi on – es gibt keine zentrale Autorität, keine Kirche, keine Schriften oder Dogmen – aber sie ist erstaunlich übereinstimmend, wo auch immer man sie vorfindet. Ihr grundlegender Glaube ist, dass alles – Menschen, Tiere, Pflanzen, was auch immer – eine Seele, bzw. einen Geist hat. Animisten teilen die Welt in zwei Bereiche auf: Die normale körperliche Welt und die (buchstäblich) spirituelle. Dabei handelt es sich um eine zeitlose parallele Dimension, in der die Dinge ein geistiges ‚zweites Ich‘ haben. Die körperliche und die geistige Welt sind zwei Seiten einer Medaille. Die spirituelle Welt of fenbart, wenn man so will, das innere Leben. Wenn man z.B. einen Baum fällt, könnte sein innerer ‚Schmerz‘ durch seinen wütenden Geist in der spirituellen Welt ausgedrückt werden.“
„Aber was ist ein Schamane?“, unterbrach Melissa. „Dazu komme ich noch“, sagte Mark verzweifelt, „aber du hattest gerade gefragt, was Animismus ist …“ Mark atmete tief ein. „OK, also … ein Schamane fungiert als Verbindungsglied zwi schen der normalen Welt und ihrer anderen Realität, wobei er in ‚ekstatischer‘ Trance zwischen diesen hin und her ‚reist‘. Diesen Zustand erreicht er, indem er psychedelische Pflanzen nimmt, durch monotones Trommeln und Singen oder durch stundenlanges Tan zen und ähnliche Techniken. Ich selbst würde es als einen ‚Trip‘ be zeichnen. Der Zweck solcher Reisen ist in der Regel eine Heilung, da die Schamanen die inneren Ursachen eines Problems suchen. Obwohl die Schamanen Kräuter- und Pflanzenmedizin verwenden, glauben sie, dass ernste Krankheiten geheilt werden müssen, indem man die ‚innere‘ Ursache findet …“
„Also ein bisschen wie die spirituellen Vermittler im Voodoo“, schlug ich vor. „Nicht ganz. Der Unterschied ist, dass der Schamane aktiv ist. Er oder sie reist in die Welt der Geister, um Geister zu bekämpfen oder ihre Hilfe zu erbitten. Die Vermittler – die Medien – im Voodoo sind passiv. Sie warten darauf, dass ein Geist von ihnen ‚Besitz ergreift‘. Jedenfalls kann man es wörtlich oder symbolisch verstehen, wie man will. Aber was die animistische Weltanschauung – mit ihrer Vielfalt von Geistern und der magischen parallelen Realität – aus meiner Sicht ausdrückt, ist ein Gefühl für die ‚Heiligkeit‘ der Natur selbst. Entscheidend ist, dass nicht nur Menschen eine Seele haben, sondern alles andere auch. Für Animisten ist die ganze natürliche Welt um uns herum mit magischer, göttlicher Lebensenergie aufge laden. Das Heilige ist in der Natur verortet, nicht irgendwo außer halb wie bei unserem Gott. Das ist ein entscheidender Unterschied. Der westliche Begriff von Gott reflektiert den westlichen Glauben, dass Menschen der übrigen Schöpfung per se übergeordnet sind: Dass die natürliche Welt uns von Gott ausschließlich zu unserem Nutzen gegeben wurde. Wenn ihr mich fragt, ist es dieser Glaube, der die Saat für die heutige Umweltkrise gesät hat.“ 30
---30 Europäer waren Animisten, bevor sie Juden und Christen wurden – und tatsächlich stammen die christlichen Vorstellungen von Himmel und Hölle, Engeln und Dämonen, dem Teufel und dem Kreuz alle aus älteren animistischen Überzeugungen. Was verursachte also die große Wendung zum Monotheismus? Eine Möglichkeit ist, dass sie aus der Entwicklung des Ackerbaus im Nahen Osten folgte, die den Menschen das Gefühl gab, die Natur „gemeistert“ zu haben. Natürlich hat sich Ackerbau auch in den Anden entwickelt, und trotzdem sind die Menschen hier Animisten geblieben, aber sie hatten reichlich Vulkane und Erdbeben, die sie daran erinnerten, dass die Natur immer noch der Boss war. Eine andere Theorie findet man in Raine Eislers
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