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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Wasseroberfläche auf etwas Hartes. Die Kälte schließt sich um dich zusammen und nimmt dir den Atem. Du machst hektische Schwimmbewegungen, um von dem Müll wegzukommen, den du dir unter dir vorstellst, rostige Haken und Klauen, die nach deinen Genitalien und Füßen greifen. Dein Knie tut weh von dem Aufprall.
    Du hebst den Kopf und siehst Drew auf dem Rücken treiben. »Wir können hier doch wieder raus, oder?«, schreist du.
    »Ja, Rob«, antwortet er mit dieser tonlosen neuen Stimme. »Auf demselben Weg, auf dem wir reingekommen sind.«
    Du sagst nichts mehr. Du brauchst all deine Kraft, um Wasser zu treten und nach Luft zu schnappen. Irgendwann fühlt sich die Kälte an deiner Haut fast tropisch warm an. Das Kreischen in deinen Ohren legt sich, und du kannst wieder atmen. Du schaust dich um, verwirrt von der geheimnisvollen Schönheit deiner Umgebung: eine vom Wasser umgebene Insel. In der Ferne schiebt ein Schlepper seine Gummilippe hervor. Die Freiheitsstatue. Ein Donnern von Rädern auf der Brooklyn-Brücke, die aussieht wie das Innere einer Harfe. Kirchturmglocken, mäandernd und misstönend wie die Windharfen, die deine Mutter auf die Veranda hängt. Du bewegst dich schnell, und als du dich nach Drew umschaust, kannst du ihn nirgends entdecken. Das Ufer ist weit weg. Jemand schwimmt davor, aber in solcher Entfernung, dass du, als der Schwimmer anhält und hektisch mit den Armen wedelt, nicht sehen kannst, wer es ist. Du hörst ein entferntes Rufen, »Rob!«, und dir geht auf, dass du diese Stimme schon seit einer ganzen Weile hörst. Panik durchbohrt dich und bringt dir kristallklar die physischen Tatsachen vor Augen: Eine Strömung hat dich erfasst. Es gibt Strömungen in diesem Fluss – das hast du gewusst, hast es irgendwo gehört und vergessen –, du brüllst, spürst aber, wie schwach deine Stimme ist, spürst die seismische Gleichgültigkeit des Wassers, das dich umgibt – und das alles im Bruchteil einer Sekunde.
    » Hilfe! Drew!«
    Während du um dich schlägst, obwohl du weißt, dass du jetzt nicht in Panik geraten darfst – Panik raubt dir die Kraft –, ziehst du dich innerlich zurück, wie es dir so oft, so leicht gelingt, manchmal ohne dass du es auch nur bemerkst, und überlässt es Robert Freeman junior, allein mit der Strömung fertig zu werden, während du dich in die weitere Landschaft rettest und in dem Wasser aufgehst, den Häusern und den Straßen, den Avenuen wie endlosen Korridoren, einem Haus voller schlafender Studenten, der Luft, die sich aus ihrem gemeinsamen Atem speist. Du schlüpfst durch Sashas offenes Fenster, schwebst über die mit Andenken von ihren Reisen belegte Fensterbank: eine weiße Muschel, eine kleine goldene Pagode, zwei rote Würfel. Ihre Harfe mit dem dazugehörigen Holzschemel in der Ecke. Sie schläft in ihrem schmalen Bett, ihre brandroten Haare dunkel auf dem Kissen. Du kniest dich neben sie hin, atmest den vertrauten Geruch von Sashas Schlaf ein, flüsterst ihr alles Mögliche ins Ohr wie Tut mir leid und Ich glaube an dich und Ich werde immer bei dir sein und dich beschützen und Ich werde dich niemals verlassen, ich werde mich für den Rest deines Lebens an dein Herz schmiegen, bis der Druck des Wassers, das auf meinen Schultern und meiner Brust lastet, mich wachquetscht und ich höre, wie Sasha mich anschreit: Kämpf! Kämpf! Kämpf!

11
    Leb wohl, Liebste
    Als Ted Hollander sich bereit erklärte, auf der Suche nach seiner verschollenen Nichte nach Neapel zu fahren, stellte er für seinen Schwager, der die Reise bezahlte, einen Plan für die Suche auf, bei dem es darum ging, Orte abzuklappern, an denen vagabundierende, drogenabhängige Jugendliche herumhängen – den Bahnhof, zum Beispiel –, und zu fragen, ob sie ihnen bekannt sei. »Sasha – Amerikanerin. Capelli rossi «  – rote Haare, wollte er sagen, er hatte sogar das R geübt, bis er es am Wortanfang von »rossi« perfekt rollen konnte. Aber seit seiner Ankunft in Neapel vor einer Woche hatte er es nicht ein einziges Mal gesagt.
    Auch heute ignorierte er seinen Entschluss, zuerst nach Sasha zu suchen, und besichtigte die Ruinen von Pompeji, um sich frühe römische Wandgemälde und kleine liegende Körper anzusehen, die wie Ostereier zwischen den mit Säulen bestandenen Innenhöfen verstreut waren. Er verzehrte unter einem Olivenbaum eine Dose Thunfisch und lauschte der wahnsinnigen, leeren Stille. Am frühen Abend kehrte er zurück in sein Hotelzimmer, wuchtete seinen

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