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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Angeles.«
    »Lass mich sehen.«
    Sie weigerte sich, doch zu seiner eigenen Überraschung packte Ted über den Tisch hinweg ihre Handgelenke, und es bereitete ihm eine zornige Lust, seiner Nichte wehzutun, indem er ihre Hände mit Gewalt umdrehte. Er sah, dass ihre Nägel rot waren, sie hatte sie an diesem Nachmittag lackiert. Sasha gab nach und schaute weg, solange er in dem kalten, seltsamen Licht ihre Unterarme musterte. Sie waren vernarbt und abgewetzt wie Möbelstücke.
    »Viele sind aus Zufall entstanden«, sagte Sasha. »Ich war wirklich aus dem Gleichgewicht.«
    »Du hast schlimme Zeiten durchgemacht.« Er wollte, dass sie das zugab.
    Es herrschte Schweigen, bis Sasha schließlich sagte: »Ich habe immer wieder geglaubt, meinen Vater zu sehen. Ist das nicht verrückt?«
    »Ich weiß nicht.«
    »In China oder Marokko. Wenn ich durch ein Zimmer schaute - bumm -, sah ich seine Haare. Oder seine Beine, ich kann mich noch genau an die Form seiner Beine erinnern. Oder daran, wie er beim Lachen den Kopf in den Nacken geworfen hat, weißt du noch, Onkel Teddy? Dass sein Lachen eher wie Gebrüll klang?«
    »Ja, jetzt, wo du es sagst.«
    »Ich dachte, dass er mir vielleicht folgte«, sagte Sasha, »um sicherzugehen, dass bei mir alles in Ordnung war. Und dann, als das offenbar nicht der Fall war, bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.«
    Ted ließ ihre Arme los, und sie verschränkte sie auf dem Schoß. »Ich dachte, er könnte mich wegen meiner Haare aufspüren. Aber jetzt sind die nicht mal mehr rot.«
    »Ich habe dich ja auch erkannt.«
    »Stimmt.« Sie beugte sich zu ihm vor, ihr bleiches Gesicht war dicht vor Teds und angespannt vor Erwartung. »Onkel Teddy«, sagte sie. »Was machst du eigentlich hier?«
    Das war die Frage, vor der er sich gefürchtet hatte, aber die Antwort entglitt Ted wie Fleisch, das von einem Knochen fällt. »Ich bin hier, um Kunstwerke zu betrachten«, sagte er. »Kunst sehen und über Kunst nachdenken.«
    Da: ein plötzliches, erhebendes Gefühl von Frieden und Erleichterung. Er war gar nicht wegen Sasha gekommen, es stimmte.
    »Kunst?«
    »Das mache ich am liebsten«, sagte er und lächelte bei der Erinnerung an Orpheus und Eurydike am Nachmittag. »Das würde ich am liebsten die ganze Zeit tun, es ist mir wichtig.«
    Sashas Gesichtszüge lösten sich, als sei irgendein Gewicht, gegen das sie sich gestählt hatte, von ihr abgefallen. »Ich dachte schon, du wärst meinetwegen hier«, sagte sie.
    Ted musterte sie aus der Ferne. Aus einer friedlichen Ferne.
    Sasha steckte sich eine ihrer Marlboros an. Nach zwei Zügen drückte sie sie aus. »Tanzen wir«, sagte sie und erhob sich schwerfällig von ihrem Sitz. »Na los, Onkel Teddy.« Sie nahm seine Hand, führte ihn zum Tanzboden, einer flüssigen Masse aus Körpern, die Ted in panische Schüchternheit versetzte. Er zögerte und leistete Widerstand, aber Sasha zerrte ihn zwischen die anderen Tanzenden, und sofort bekam er Auftrieb, fühlte sich gelöst. Wie lange hatte er nicht mehr in einem Nachtclub getanzt? Fünfzehn Jahre? Mehr? Zögernd fing Ted an, sich zu bewegen, er kam sich unbeholfen vor, wie ein Tolpatsch in seinem Professorentweed, er bewegte seine Füße in einer Annäherung an Tanzschritte, bis ihm auffiel, dass Sasha sich überhaupt nicht rührte. Regungslos stand sie da und beobachtete ihn. Und dann streckte sie die Hand nach ihm aus, umfing Ted mit ihren langen Armen und klammerte sich an ihn, so dass er ihren zarten Körper spürte, die Höhe und das Gewicht dieser neuen Sasha, seiner erwachsenen Nichte, die einmal so klein gewesen war, und das Unwiderrufliche dieser Verwandlung machte Ted so traurig, dass es ihm die Kehle zuschnürte und schmerzhaft in der Nase kitzelte. Er klammerte sich an Sasha. Aber sie war verschwunden, dieses kleine Mädchen. Zusammen mit diesem leidenschaftlichen Jungen, der sie geliebt hatte.
    Endlich löste sie sich von ihm. »Warte hier«, sagte sie und schaute ihm nicht in die Augen. »Ich bin gleich wieder da.« Orientierungslos verharrte Ted zwischen den tanzenden Italienern, bis ein wachsendes Unbehagen ihn von der Tanzfläche vertrieb. Er blieb noch eine Weile am Rand. Irgendwann drehte er Runden durch den Club. Sie hatte Freunde erwähnt - konnte es sein, dass sie gerade irgendwo hier mit ihnen redete? Oder war sie nach draußen gegangen? Besorgt, benebelt von seinem eigenen Getränk bestellte sich Ted an der Bar ein San Pellegrino. Und erst jetzt, als er nach seiner Brieftasche griff

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