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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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ausgerenkt, und ihr Schlüsselbein, das er gebrochen hatte. Wenn sie sich fetzten, ging Ted mit Sasha durch das rasierklingenscharfe Gras am Ufer nach draußen. Sasha hatte lange rote Haare und eine bläulich weiße Haut, die Beth immer vor dem Verbrennen zu beschützen versuchte. Ted nahm die Angst seiner Schwester ernst und nahm immer Sonnencreme mit, wenn sie hinausgingen - der Sand war am späten Nachmittag so heiß, dass Sasha nicht ohne zu schreien darauf herumlaufen konnte. Er nahm sie auf den Arm, leicht wie eine Katze in ihrem rot-weißen Badeanzug, setzte sie auf ein Handtuch und rieb ihr Sonnencreme auf Schultern und Rücken und Gesicht, auf die winzige Nase - Sasha musste damals ungefähr fünf gewesen sein - und fragte sich, was aus ihr werden sollte, wo sie zwischen so viel Gewalttätigkeit groß wurde. Er bestand darauf, dass sie in der Sonne ihre weiße Matrosenmütze trug, obwohl sie das nicht wollte. Er studierte damals noch Kunstgeschichte und arbeitete als Subunternehmer, um sich das Studium zu verdienen.
    »Sub-un-ter-neh-mer«, wiederholte Sasha gewissenhaft. »Was ist das?«
    »Na ja, er beaufsichtigt die Arbeiter beim Bau eines Hauses.«
    »Sind da auch Fußbodenschleifer da?«
    »Aber sicher doch. Kennst du irgendwelche Fußbodenschleifer?«
    »Einen«, sagte sie. »Er hat den Boden in unserem Haus abgeschliffen. Er heißt Mark Avery.«
    Ted war dieser Mark Avery sofort suspekt. »Er hat mir einen Fisch geschenkt«, sagte Sasha.
    »Einen Goldfisch?«
    »Nein«, sagte sie lachend und patschte ihm auf den Arm. »Einen Badewannenfisch.«
    »Quietscht er?«
    »Ja, aber das hör ich nicht gern.«
    Diese Unterhaltungen gingen stundenlang so weiter. Ted hatte das unbehagliche Gefühl, dass das Kind sie in die Länge zog, um Zeit zu schinden, um sie beide davon abzulenken, was sich womöglich im Haus abspielte. Und das ließ sie viel älter wirken als sie wirklich war, eine winzige kleine Frau, wissend, lebensüberdrüssig, die die Bürden der Welt so sehr akzeptierte, dass sie sie nicht einmal mehr erwähnte. Sie spielte nie auf ihre Eltern an oder darauf, wovor Ted und sie sich an diesem Ufer versteckten.
    »Gehst du mit mir schwimmen?«
    »Natürlich«, sagte er jedes Mal.
    Erst dann erlaubte er ihr, das schützende Hütchen abzunehmen. Ihre Haare waren lang und seidig, und während er Sasha (wie sie das immer wollte) in den Michigansee trug, wurden sie ihm ins Gesicht geweht. Sie umschlang ihn mit ihren dünnen Beinen und Armen, die von der Sonne warm waren, und legte ihm den Kopf an die Schulter. Ted spürte ihre wachsende Furcht, als sie sich dem Wasser näherten, aber sie weigerte sich, ihn umkehren zu lassen. »Nein. Ist schon gut. Weiter«, murmelte sie verbissen an seinem Hals, als sei das Untertauchen im Michigansee eine Prüfung, die sie um eines höheren Zieles willen ertragen müsste. Ted versuchte auf allerlei Weisen, es leichter für sie zu machen - indem er Stück für Stück hineinging oder sich gleich fallen ließ -, aber immer keuchte Sasha vor Schmerzen auf, und ihre Arme und Beine umschlangen ihn noch fester. Wenn es vorüber war, wenn sie es ins Wasser geschafft hatten, war sie wieder sie selbst, vertieft ins Hundepaddeln, trotz seiner Bemühungen, ihr das Kraulen beizubringen. (»Ich kann schwimmen«, sagte sie dann ungeduldig. »Ich will nur nicht!«) Sie spritzte ihn nass, tapfer mit den Zähnen klappernd. Aber der ganze Prozess brachte Ted aus dem Konzept, als täte er ihr weh, als zwänge er seine Nichte zu diesem Bad, wo er sie doch in Wirklichkeit retten wollte oder zumindest davon träumte, wie er sie in eine Decke wickeln und sie heimlich vor Anbruch der Dämmerung aus dem Haus schmuggeln, mit einem alten Ruderboot, das er gefunden hatte, davonfahren, sie zum Ufer hinuntertragen und nicht zurückblicken würde. Er war fünfundzwanzig. Er vertraute sonst niemandem. Aber er konnte wirklich nichts unternehmen, um seine Nichte zu beschützen, und während die Wochen verstrichen, sah er das Ende des Sommers wie ein schwarzes Ungeheuer auf sich zukommen. Doch als es dann so weit war, ging alles seltsam leicht. Sasha klammerte sich an ihre Mutter, sie würdigte Ted, der seinen Wagen vollpackte und sich verabschiedete, kaum eines Blickes, und als er losfuhr, war er wütend auf sie und verletzt, obwohl er wusste, dass das kindisch war, aber er konnte offenbar nicht dagegen an, und als das Gefühl sich legte, war er erschöpft, sogar zum Fahren zu müde. Er hielt vor einem Dairy

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