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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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weitere fünfzig. Zweimal stand er auf, um Hausbewohnerinnen vorbeizulassen, Mädchen mit zittrigen Händen und zerrissenen Lederhandtaschen. Sie würdigten ihn kaum eines Blickes.
    »Bist du noch da?«, fragte Sasha hinter ihrer Tür.
    »Ja, immer noch.«
    Sie tauchte aus dem Zimmer auf und schloss rasch hinter sich die Tür. Sie trug blaue Jeans, ein T-Shirt und Plastik-Flip-Flops, und sie hatte ein verschlissenes rosa Handtuch und einen kleinen Beutel in der Hand. »Wohin gehst du?«, fragte er, aber sie schritt wortlos durch den Flur. Zwanzig Minuten darauf kam sie zurück mit nass herunterhängenden Haaren und eingehüllt in blumigen Seifengeruch. Sie schloss ihre Tür auf, dann zögerte sie. »Ich putze hier im Haus, um für das Zimmer zu bezahlen, okay? Ich fege den scheiß Innenhof. Bist du jetzt zufrieden?«
    »Bist du jetzt zufrieden?«, fragte er zurück. Die Tür bebte in den Angeln.
    Als Ted sich wieder hinsetzte und über den Verlauf des Nachmittags nachdachte, ertappte er sich bei dem Gedanken an Susan. Nicht an die ein wenig andere Version von Susan, sondern Susan selbst - seine Frau - an einem Tag vor vielen Jahren, ehe Ted angefangen hatte, sein Verlangen auf ein winziges Maß zurückzufahren. Während eines Besuchs in New York, als sie zum Spaß mit der Fähre nach Staten Island fuhren, weil sie das beide noch nie gemacht hatten, drehte sich Susan plötzlich zu ihm um und sagte: »Lass uns dafür sorgen, dass es immer so bleibt.« Und ihre Gedanken waren in diesem Moment dermaßen miteinander verschlungen, dass Ted genau wusste, warum sie das gesagt hatte: Nicht, weil sie sich an diesem Morgen geliebt oder weil sie zum Mittagessen eine Flasche Pouilly-Fuisse getrunken hatten - sondern weil sie das Vergehen der Zeit gespürt hatte. Und damals ging es Ted genauso, er merkte es am aufgewühlten braunen Wasser, an der Eile von Schiffen und Wind - Bewegung, Chaos überall -, und er nahm Susans Hand und sagte: »Immer. Es wird immer so bleiben.«
    Als er vor Kurzem einmal in einem anderen Zusammenhang auf diese Reise zu sprechen kam, hatte Susan ihm ins Gesicht geblickt und mit ihrer neuen sonnigen Stimme gezwitschert: »Bist du sicher, dass ich das war? Ich kann mich an gar nichts erinnern«, und hatte Ted ein flüchtiges Küsschen auf den Kopf verpasst. Gedächtnisschwund, dachte er. Gehirnwäsche. Aber jetzt ging ihm auf, dass Susan einfach gelogen hatte. Er hatte sie fallen lassen und sich aufbewahrt für… ja, für was? Es machte ihm Angst, dass er keine Ahnung hatte. Aber er hatte sie fallen lassen, und jetzt war sie weg.
    »Bist du noch da?«, rief Sasha, aber er gab keine Antwort.
    Sie riss die Tür auf und steckte den Kopf hinaus. »Da bist du ja«, sagte sie erleichtert. Ted schaute vom Boden her zu ihr auf und sagte nichts. »Du könntest ruhig reinkommen«, sagte sie.
    Er kam mühsam auf die Beine und betrat ihr Zimmer. Es war winzig, ein schmales Bett, ein Schreibtisch, in einem Plastikbecher ein Zweig Minze, der den Raum mit seinem Duft erfüllte. Das rote Kleid hing an einem Haken. Die Sonne ging jetzt unter, sie glitt über Dächer und Kirchtürme und gelangte durch das einzige Fenster beim Bett ins Zimmer. Die Fensterbank war voll belegt mit Dingen, die wie Andenken an Sashas Reisen wirkten: eine winzige goldene Pagode, ein Piektrum, eine längliche weiße Muschel. Mitten im Fenster baumelte an einem Bindfaden ein aus einem Kleiderbügel gebogener Ring. Sasha setzte sich auf das Bett und sah zu, wie Ted sich ein Bild von ihren bescheidenen Habseligkeiten machte. Er erkannte mit erbarmungsloser Klarheit, was er am Vortag aus irgendeinem Grund nicht erfasst hatte. Wie einsam seine Nichte in dieser fremden Stadt war. Wie arm.
    Als hätte sie seinen Gedanken genau erfasst, sagte Sasha: »Ich lerne eine Menge Leute kennen. Aber es ist nie wirklich von Dauer.«
    Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Stapel von englischen Büchern: Die Geschichte der Welt in vierundzwanzig Lektionen; Die reichen Schätze von Neapel. Ganz oben ein abgegriffener Band mit dem Titel Schreibmaschinenkurs.
    Ted setzte sich neben seine Nichte auf das Bett und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fühlten sich unter seiner Jacke an wie Vogelnester. Ein Kribbeln ließ seine Nasenlöcher schmerzen.
    »Hör mal zu, Sasha«, sagte er. »Du kannst es allein schaffen. Aber damit machst du es dir unnötig schwer.«
    Statt einer Antwort schaute sie die Sonne an. Auch Ted betrachtete durch das Fenster den Tumult aus

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