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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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und diese verschwunden war, merkte er, dass Sasha ihn bestohlen hatte.
     
    Sonnenlicht bohrte sich durch seine verklebten Augenlider und weckte ihn unsanft auf. Er hatte vergessen, die Jalousien herunterzuziehen. Als er endlich zu Bett gegangen war, war es fünf Uhr gewesen, und er hatte Stunden hilflosen Umherwanderns hinter sich und diverse irreführende Wegbeschreibungen zur nächsten Wache: Nachdem er sie endlich gefunden und (ohne die Identität der Taschendiebin preiszugeben) einem Polizeibeamten mit geölten Haaren und tadellos gleichgültiger Haltung seine traurige Geschichte erzählt hatte, bot ein älteres Ehepaar, mit dem er auf der Wache ins Gespräch gekommen war - ihre Papiere waren auf der Fähre von Amalfi gestohlen worden -, ihm an, ihn ins Hotel zu bringen (und um mehr war es ihm im Grunde nicht gegangen).
    Jetzt stand Ted mit Kopfdröhnen und Herzrasen aus dem Bett auf. Anrufbenachrichtigungen müllten den Tisch zu: fünf von Beth, drei von Susan und zwei von Alfred {ich verlieren, lautete eine im gebrochenen Englisch des Hotelangestellten). Ted ließ sie dort liegen, wohin er sie geworfen hatte. Er duschte, zog sich an, ohne sich zu rasieren, kippte an der Minibar einen Wodka und nahm Bargeld und eine weitere Kreditkarte aus seinem Zimmersafe. Er musste Sasha jetzt finden - heute noch -, und dieser Imperativ, der ihn zu keinem bestimmten Zeitpunkt erfasst hatte, nahm eine Dringlichkeit an, die das perfekte Gegenteil seines bisherigen Zauderns darstellte. Es gab noch andere Dinge, die er erledigen musste – Beth anrufen, Susan anrufen, essen -, aber das kam jetzt alles nicht in Frage. Erst musste er sie finden.
    Aber wo? Ted grübelte über diese Frage nach, während er im Hotelfoyer drei Espresso trank, worauf Koffein und Wodka sich in seinem Gehirn begrüßten wie kämpfende Fische. Wo sollte er in dieser riesigen, übel riechenden Stadt nach Sasha suchen? Er ging die Strategien durch, die er bisher nicht angewandt hatte: heruntergekommene Jugendliche im Bahnhof und in den Jugendherbergen ansprechen, aber nein, nein. Dafür hatte er jetzt zu lange gewartet.
    Ohne einen klaren Plan fuhr er mit einem Taxi zum Museo Nazionale und ging in die Richtung los, die er am Vortag eingeschlagen zu haben glaubte, nachdem er sich Orpheus und Eurydike angesehen hatte. Nichts sah so aus wie gestern, aber sicher war dieser Unterschied seinem Geisteszustand zuzuschreiben, dem winzigen Metronom aus Panik, das jetzt in ihm tickte. Nichts sah so aus wie gestern, und doch wirkte alles vertraut; die beschmutzten Kirchen und die schiefen, überwucherten Mauern, die langen schmalen Bars. Nachdem er den Windungen einer engen Gasse bis zum Ende gefolgt war, sah er hinaus auf eine von müden Palazzi gesäumte Durchgangsstraße, deren Erdgeschosse entkernt worden waren, um darin billige Kleiderund Schuhgeschäfte unterzubringen. Ted wehte ein Hauch des Wiedererkennens an. Er folgte langsam dem Boulevard, schaute nach rechts und nach links, bis er das gelbe Smiley entdeckte, das einen Palimpsest aus Schwertern und Kreuzen überklebte.
    Er stieß die kleine viereckige Tür auf, die in einen breiten Torbogen eingelassen war, wo früher Pferdekutschen empfangen worden waren, dann folgte er einem Durchgang in einen gepflasterten Hinterhof, der vom Sonnenschein von vorhin noch warm war. Es roch nach verfaulenden Melonen. Eine alte Frau mit krummen Beinen, die unter ihrem Kleid blaue Kniestrümpfe trug und sich ein Tuch um die Haare gebunden hatte, wackelte ihm entgegen.
    »Sasha«, sagte Ted ihr in die trüben feuchten Augen. »Amerikanerin. Capelli rossi.« Er blieb am R hängen und versuchte es noch mal. »Rossi«, sagte er, diesmal gelang ihm das Rollen. »Capelli rossi.« Noch beim Sprechen merkte er, dass diese Beschreibung nicht mehr ganz zutraf.
    »No, no«, murmelte die Frau. Als sie anfing, wegzuschlingern, lief Ted hinterher, drückte ihr einen Zwanzigdollarschein in die weiche Hand und fragte noch einmal, diesmal konnte er das R problemlos rollen. Die Frau schnalzte mit der Zunge, machte eine Bewegung mit dem Kinn und winkte dann, mit fast traurigem Gesicht, Ted hinter sich her. Er folgte, erfüllt von Abscheu darüber, wie leicht sie zu kaufen gewesen war, wie wenig ihr Schutz wert war. Auf der einen Seite des Eingangs befand sich ein breites Treppenhaus, Stellen von kostbarem neapolitanischem Marmor leuchteten noch immer durch den Schmutz. Die Frau stieg langsam die Treppe hoch und klammerte sich am Geländer fest.

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