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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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hypnotischen Gesang der Heuschrecken.
    »Ich schreibe über den Einfluss griechischer Bildhauerei auf die französischen Impressionisten«, sagte er und versuchte, lebhaft zu klingen, aber alles fiel wie ein Ziegelstein zu Boden.
    »Deine Frau, Susan«, sagte Sasha. »Sie hat blonde Haare, ja?«
    »Ja, Susan ist blond …«
    »Meine Haare waren früher rot.«
    »Sie sind immer noch rot«, sagte er. »Rötlich.«
    »Aber nicht so wie früher.« Sie beobachtete ihn und wartete auf die Bestätigung. »Nein.«
    Sie schwieg. »Liebst du sie? Susan?«
    Diese kühle Frage traf Ted ganz in der Nähe des Solarplexus. »Tante Susan«, verbesserte er sie.
    Sasha sah aus wie bestraft. »Tante.«
    »Natürlich liebe ich sie«, sagte Ted ruhig.
    Das Essen wurde gebracht: Mit Büffelmozzarella drapierte Pizza, die Ted warm und butterweich durch die Kehle rann. Nach dem zweiten Glas Rotwein fing Sasha an zu reden. Sie war mit Wade von zu Hause durchgebrannt, dem Schlagzeuger der Pinheads (einer Band, zu der man offenbar nichts weiter erklären musste), die damals in Tokio auftraten. »Wir haben im Hotel Okura gewohnt, das war richtig schick«, sagte sie. »Es war April, dann ist in Japan die Kirschblüte, und jeder Baum war mit diesen rosa Blüten übersät, und darunter sangen und tanzten Geschäftsmänner, die Papierhüte auf dem Kopf hatten.« Ted, der nie im Fernen und nicht einmal im Nahen Osten gewesen war, verspürte einen Anflug von Neid.
    Im Anschluss an Tokio war die Band nach Hongkong gereist. »Wir haben in einem weißen Hochhaus auf einem Hügel gewohnt, mit einer unglaublichen Aussicht«, sagte sie. »Inseln und Wasser und Schiffe und Flugzeuge …«
    »Ist Wade dann also bei dir? Hier in Neapel?«
    Sie blinzelte. »Wade? Nein.«
    Er hatte sie dort verlassen, in dem weißen Hochhaus in Hongkong, sie war weiter in der Wohnung geblieben, bis deren Besitzer sie zum Gehen aufgefordert hatte. Dann war sie in eine Jugendherberge in einem Haus voller Sweatshops gezogen, wo die Menschen auf Haufen von Stoffresten unter ihren Nähmaschinen schliefen. Sasha erzählte diese Dinge munter, als sei das alles ein Heidenspaß gewesen. »Dann habe ich Freunde gefunden«, sagte sie. »Und wir sind nach China rübergegangen.«
    »Sind das die Freunde, mit denen du dich gestern getroffen hast?«
    Sasha lachte. »Ich lerne überall neue Leute kennen«, sagte sie. »So ist das auf Reisen, Onkel Teddy.«
    Sie hatte ganz rote Wangen - ob es nun am Wein lag oder vielleicht an den schönen Erinnerungen. Ted winkte nach der Rechnung und bezahlte. Er fühlte sich bleiern, deprimiert.
    Die Teenager hatten sich in die kühle Nacht zerstreut. Sasha hatte keinen Mantel an. »Bitte, nimm meine Jacke«, sagte Ted und zog den abgenutzten, schweren Tweed aus, aber davon wollte Sasha nichts hören. Er vermutete, dass sie unbedingt in ihrem roten Kleid gesehen werden wollte. Die hohen Stiefel betonten ihr Hinken noch.
    Nachdem sie an vielen Straßenzügen vorbeigegangen waren, erreichten sie einen skurrilen Nachtclub, dessen Türsteher sie lustlos hereinwinkte. Inzwischen war es Mitternacht. »Der Laden gehört Freunden von mir«, sagte Sasha und führte ihn durch ein Gewirr aus Körpern, fluoreszierendem lila Licht und einem Beat, so abwechslungsreich wie ein Presslufthammer. Sogar Ted, kein Kenner von Nachtclubs, nahm die müde Vertrautheit der Szene wahr, doch Sasha wirkte trotzdem hingerissen. »Kauf mir was zu trinken, Onkel Teddy, ja?«, sagte sie und zeigte auf ein grauenhaftes Gebräu auf einem Tisch in der Nähe. »So was, aber mit einem Schirmchen.«
    Ted bahnte sich einen Weg zur Bar. Sich von seiner Nichte zu entfernen, kam ihm vor, wie ein Fenster zu öffnen, eine erstickende Beklemmung abzuschütteln. Aber was war eigentlich so schlimm an ihr? Sasha hatte sich köstlich amüsiert, sie hatte die Welt gesehen; verdammt, sie hatte in zwei Jahren mehr unternommen als Ted in zwanzig. Warum also war er so darauf versessen, ihr zu entkommen?
    Sasha hatte zwei Stühle an einem niedrigen Tisch erobert, ein Arrangement, in dem Ted sich vorkam wie ein Affe, dem die Knie bis ans Kinn eingeklemmt waren. Als Sasha den Schirmchencocktail an die Lippen hob, glitt das lila Licht über Kerben aus bleichem Narbengewebe an der Innenseite ihres Handgelenks. Als sie ihr Glas hingestellt hatte, nahm Ted ihren Arm und drehte ihn um; Sasha ließ ihn gewähren, bis sie sah, was er betrachtete, dann riss sie ihren Arm weg. »Das ist von früher«, sagte sie. »In Los

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