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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Ted folgte ihr.
    Der erste Stock, wie er seinen Anfängerkursen seit Jahren klarmachte, war der piano nobile, die Beletage, wo die Besitzer der Paläste vor ihren Gästen ihren Reichtum zur Schau stellen. Noch jetzt, übersät vom Filz sich mausernder Tauben und stukkatiert mit ihren Exkrementen, boten die auf den Hof blickenden gewölbten Bögen einen prachtvollen Anblick. Als sie sah, dass ihm das auffiel, sagte die Frau: »Bellissima, eh? Ecco, guardate!«, und mit einem Stolz, den Ted rührend fand, riss sie die Tür zu einem großen dämmrigen Saal auf, dessen Wände mit etwas gefleckt waren, das wie Schimmel aussah. Die Frau drückte auf einen Schalter, und eine Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, verwandelte die schimmeligen Flecken in Wandgemälde im Stil von Tizian und Giorgione: kräftige nackte Frauen mit Obst in den Händen, Büschel aus dunklen Blättern. Ein Getuschel silbriger Vögel. Das musste einmal der Ballsaal gewesen sein.
    Im zweiten Stock sah Ted zwei Jungen, die sich vor einer Tür eine Zigarette teilten. Ein weiterer Junge schlief unter einem Sortiment bunt gemischter Wäsche: feuchte Socken und Unterwäsche, die sorgfältig an einem Draht befestigt waren. Ted roch Dope und ranziges Olivenöl, hörte ein Raunen unsichtbarer Vorgänge und begriff, dass aus dem Palazzo eine Absteige geworden war. Die Ironie der Tatsache, dass er sich plötzlich mitten in der Halbwelt befand, die er zu vermeiden versucht hatte, kam Ted komisch vor. Hier wären wir also, dachte er. Endlich.
    Im vierten und obersten Stock, wo einst das Gesinde untergebracht war, waren die Türen kleiner und in einen schmalen Flur eingelassen. Teds betagte Begleiterin blieb stehen und lehnte sich zum Ausruhen an eine Wand. Seine ursprüngliche Verachtung schlug in Dankbarkeit um: Welche Mühen sie für diese zwanzig Dollar auf sich genommen hatte. Wie dringend musste sie das Geld brauchen! »Es tut mir leid«, sagte er. »Tut mir leid, dass Sie so weit laufen mussten.« Aber die Frau schüttelte den Kopf, sie verstand ihn nicht. Sie trottete ein Stück weiter durch den Flur und klopfte dann energisch an eine der schmalen Türen. Sasha machte auf, noch halb im Schlaf, in einem Männerschlafanzug. Als sie Ted erblickte, wurden ihre Augen groß, ihr Gesicht zeigte aber keinerlei Regung. »Hallo, Onkel Teddy«, sagte sie sanft.
    »Sasha«, sagte er, und erst jetzt merkte er, dass auch er nach dem Treppensteigen außer Atem war. »Ich wollte … mit dir reden.«
    Der Blick der Frau sprang zwischen ihnen hin und her, dann drehte sie sich um und ging. In dem Moment, als sie um die Ecke bog, schlug Sasha ihm die Tür vor der Nase zu. »Geh weg«, sagte sie. »Ich hab zu tun.«
    Ted trat dichter an die Tür heran und legte die Handfläche auf das zersplitterte Holz. Durch die Tür hindurch spürte er die unheimliche, wütende Gegenwart seiner Nichte. »Hier wohnst du also«, sagte er.
    »Ich ziehe bald in ein besseres Haus.«
    »Wenn du genug Leute bestohlen hast?«
    Sie schwieg für einen Moment. »Das war ich nicht«, sagte sie. »Das war ein Freund von mir.«
    »Du hast überall Freunde, aber ich kriege sie nie zu sehen.«
    »Geh! Geh weg, Onkel Teddy.«
    »Würd ich gern«, sagte Ted. »Das kannst du mir glauben.«
    Aber er brachte es nicht über sich, zu gehen oder sich auch nur zu bewegen. Er blieb dort stehen, bis ihm die Beine wehtaten, dann sackte er in die Knie und ließ sich auf dem Boden nieder. Es war schon Nachmittag, und ein Heiligenschein aus trübem Licht fiel durch ein Fenster am einen Ende des Flurs. Ted rieb sich die Augen und hatte das Gefühl, bald einschlafen zu können.
    »Bist du noch da?«, bellte Sasha durch die Tür.
    »Ja, immer noch.«
    Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und Teds Brieftasche traf seinen Kopf und fiel zu Boden.
    »Scher dich zum Teufel«, sagte Sasha und schloss die Tür wieder.
    Ted öffnete die Brieftasche, stellte fest, dass der Inhalt nicht angerührt worden war, und steckte sie in die Tasche. Dann setzte er sich. Lange Zeit - es kam ihm wie Stunden vor (er hatte seine Uhr vergessen) - war alles still. Ab und zu hörte Ted, wie andere körperlose Mieter sich in ihren Zimmern bewegten. Er stellte sich vor, er sei ein Teil des Palastes, ein Schimmelfleck mit Gefühlen oder eine Stufe, deren Schicksal es war, Ebbe und Flut der Generationen zu beobachten, zu spüren, wie das Haus sein mittelalterliches Gewicht immer tiefer in die Erde sinken ließ. Ein Jahr lang, noch

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