Der groesste Teil der Welt
Erleichterung und erstarrter Freude klar wurde, dass es zu spät war.
Lulu bewegte sich, und Dolly rutschte dichter an sie heran und nahm ihre Tochter in die Arme. Anders als im wachen Zustand entspannte Lulu sich bei der Berührung ihrer Mutter. Dolly empfand eine Welle aus irrationaler Dankbarkeit für den General, der dieses eine Bett zur Verfügung gestellt hatte - es war ein so seltener Luxus, ihre Tochter im Arm zu halten, das leise Klopfen ihres Herzens zu hören.
»Ich werde dich immer beschützen, mein Liebling«, flüsterte Dolly Lulu ins Ohr. »Nichts Schlimmes wird uns je passieren, das weißt du doch, oder?«
Lulu schlief weiter.
Am nächsten Tag drängten sie sich in zwei schwarze Panzerwagen, die Jeeps ähnelten, aber schwerer waren. Are und einige Soldaten fuhren mit dem ersten Wagen, Dolly und Lulu und Kitty mit dem zweiten. Auf dem Rücksitz hatte Dolly das Gefühl, vom Gewicht des Wagens zu Boden gedrückt zu werden. Sie war erschöpft, erfüllt von bangen Ahnungen.
Kitty hatte eine atemberaubende Verwandlung durchgemacht. Sie hatte sich die Haare gewaschen, Make-up aufgetragen und ein ärmelloses salbeigrünes Kleid aus Spiegelsamt angezogen. Diese Farbe betonte die grünen Flecken in ihren blauen Augen und ließ sie türkis aussehen. Kittys Schultern waren sportlich gebräunt, ihre Lippen mit rosa Gloss geschminkt, ihre Nase mit feinen Sommersprossen überzogen. Die Wirkung übertraf Dollys kühnste Hoffnungen. Es tat ihr beinahe weh, Kitty anzusehen, und sie musste sich abwenden.
Sie fegten durch die Kontrollpunkte und hatten bald die offene Ringstraße erreicht, auf der sie die bleiche Stadt von oben umfuhren. Dolly sah Händler am Straßenrand. Oft waren es Kinder, die den näher kommenden Jeeps eine Handvoll Obst oder ein Pappschild entgegenhielten. Wenn die Fahrzeuge vorüberjagten, wurden die Kinder von dem Tempo rückwärts gegen die Böschung geworfen. Dolly schrie auf, als sie das zum ersten Mal sah, und beugte sich vor, um dem Fahrer etwas zu sagen. Aber was eigentlich? Sie zögerte, dann ließ sie sich zurücksinken und versuchte nicht aus dem Fenster zu schauen. Lulu beobachtete die Kinder, sie hatte dabei ihr Mathebuch aufgeschlagen auf den Knien liegen.
Es war eine Erleichterung, die Stadt hinter sich zu lassen und durch leeres Terrain zu fahren, das wie eine Wüste aussah, Antilopen und Kühe knabberten an der kargen Vegetation. Ohne um Erlaubnis zu bitten, fing Kitty an zu rauchen, sie blies den Rauch aus dem einen Spaltweit geöffneten Fenster. Dolly unterdrückte den Impuls, ihr Vorwürfe zu machen, weil sie Lulus Lunge zum Passivrauchen zwang.
»Also«, sagte Kitty und wandte sich an Lulu. »Was für große Pläne hast du so?«
Lulu schien diese Frage zu überdenken. »Du meinst… für mein Leben?«
»Warum nicht?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Lulu nachdenklich. »Ich bin erst neun.«
»Na, das ist vernünftig.«
»Lulu ist sehr vernünftig«, sagte Dolly.
»Ich meine, was du dir ausmalst«, sagte Kitty. Sie war unruhig, bewegte ihre trockenen, manikürten Finger hektisch, als wolle sie noch eine Zigarette, zwinge sich aber zum Warten. »Oder tun Kinder das nicht mehr?«
Mit ihrem siebten Sinn erfasste Lulu intuitiv, dass Kitty einfach reden wollte. »Was hast du dir denn erträumt«, fragte sie, »als du neun warst?«
Kitty dachte nach, dann lachte sie und zündete sich die nächste an. »Ich wollte Jockey werden«, sagte sie. »Oder Filmstar.«
»Der eine Wunsch hat sich doch erfüllt.«
»Das schon«, sagte Kitty und schloss die Augen, während sie den Rauch zum Fenster hinausblies. »Der eine Wunsch hat sich erfüllt.«
Lulu sah sie mit ernster Miene an. »War das nicht so toll, wie du gedacht hattest?«
Kitty öffnete die Augen wieder. »Die Schauspielerei?«, fragte sie. »Doch, die fand ich wunderbar, auch jetzt noch - sie fehlt mir. Aber die Leute waren grauenhaft.«
»Wieso?«
»Verlogen«, sagte Kitty. »Anfangs wirkten sie nett, aber das war alles nur aufgesetzt. Die Fieslinge, die keinen Hehl daraus machten, dass sie dich im Grunde umbringen wollten, waren immerhin ehrlich.«
Lulu nickte, als habe sie auch schon einmal mit diesem Problem zu tun gehabt. »Hast du es selber mit Lügen versucht?«
»Das schon, sehr oft sogar. Aber ich konnte nie vergessen, dass ich log, und wenn ich dann doch wieder die Wahrheit sagte, wurde ich gleich dafür bestraft. Es war so, wie wenn du feststellst, dass es keinen Weihnachtsmann
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