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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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die Darstellung sah, fühlte sich von ihrem kühlen Gewicht durch den ganzen Raum hindurch angezogen, ließ sich aber absichtlich Zeit, ehe er davortrat, indem er sich die Ereignisse, die vor dem dort dargestellten Augenblick lagen, in Erinnerung rief: Orpheus und Eurydike verliebt und frisch verheiratet, Eurydike, die auf der Flucht vor den Nachstellungen eines Schäfers an einem Schlangenbiss stirbt, Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt und deren feuchtkalte Gänge mit der Musik seiner Leier füllt, während er von der Sehnsucht nach seiner Frau singt, Pluto, der bereit ist, Eurydike freizulassen, unter der einzigen Bedingung, dass Orpheus sich während des Aufstiegs nicht nach ihr umsieht. Und dann der unselige Augenblick, da Orpheus sich aus Angst um seine im Gang stolpernde Frau vergisst und nach ihr umdreht.
    Ted trat auf das Relief zu und war sofort mittendrin, so vollständig fühlte er sich davon berührt und umschlossen. Es war der Moment, ehe Eurydike zum zweiten Mal in die Unterwelt hinabsteigen muss, der Moment, als sie und Orpheus Abschied nehmen. Was Ted bewegte, was gleichsam zarte Gläser in seiner Brust zerschlug, war die Ruhe ihres Abschieds, das Fehlen von Dramatik oder Tränen, während sie einander ansahen und sich sanft berührten. Er spürte ein Verständnis zwischen ihnen, das zu tief war, um in Worte gefasst zu werden, die unaussprechliche Erkenntnis, dass alles verloren ist.
    Eine halbe Stunde lang versenkte sich Ted hingerissen in das Relief. Er entfernte sich ein Stückchen und kam wieder näher. Er verließ den Saal und kehrte zurück. Jedes Mal erwartete ihn dasselbe Erlebnis: eine flimmernde Erregung, wie er sie seit Jahren nicht mehr als Reaktion auf ein Kunstwerk empfunden hatte, wobei die Tatsache, dass eine solche Erregung noch möglich war, ihn in noch größere Erregung versetzte.
    Er verbrachte den restlichen Tag oben bei den Mosaiken aus Pompeji, aber in Gedanken war er die ganze Zeit bei Orpheus und Eurydike. Er besuchte sie noch einmal, ehe er das Museum verließ.
    Inzwischen war es Nachmittag. Ted ging los, noch immer benommen, bis er sich in einem Gewirr von so engen Gassen wiederfand, dass sie ihm dunkel vorkamen. Er ging vorbei an Kirchen, an denen der Schmutz Blasen warf, an zerfallenden Palazzi, aus deren verdrecktem Inneren das Geheul von Katzen und Kindern drang. Beschmierte, vergessene Wappen waren über die massiven Türeingänge gemeißelt, und es verstörte Ted zutiefst, wie solche universalen, maßgeblichen Symbole allein durch die Zeit gänzlich verlieren konnten. Er malte sich aus, wie die etwas andere Version von Susan an seiner Seite sein Erstaunen darüber teilen würde.
    Als Orpheus und Eurydike ihn langsam losließen, registrierte Ted ein unterirdisches Raunen um sich herum; ein Zusammenspiel aus Blicken, Pfiffen und Zeichen, das fast alle einzubeziehen schien, von der alten Vettel in Schwarz vor der Kirche bis zu dem Jugendlichen im grünen T-Shirt, der unablässig auf seiner Vespa an Ted vorüberfegte und ihn beinahe streifte. Alle, nur ihn nicht. Aus einem Fenster ließ eine alte Frau an einem Seil einen Korb voller Marlboropackungen auf die Straße herunter. Schwarzmarkt, dachte Ted, und sah nervös zu, wie ein Mädchen mit verfilzten Haaren und sonnenverbrannten Armen eine Packung herausnahm und einige Münzen in den Korb legte. Als der Korb wieder hochgezogen wurde, auf das Fenster zu, erkannte Ted in der Zigarettenkäuferin seine Nichte.
    Er hatte sich vor dieser Begegnung so sehr gefürchtet, dass er nicht einmal richtig überrascht war von diesem unglaublichen Zufall. Sasha steckte sich mit gerunzelter Stirn eine Marlboro an, und indem er so tat, als bewunderte er die verdreckte Mauer eines Palazzo, verlangsamte Ted seine Schritte. Als sie dann weiterging, folgte er ihr. Sie trug verwaschene schwarze Jeans und ein spülwassergraues T-Shirt. Sie lief sprunghaft und mit einem leichten Hinken, mal langsam, mal wieder rasch, so dass Ted aufpassen musste, sie nicht zu überholen oder hinter ihr zurückzubleiben.
    Er wurde in die verknoteten Innereien der Stadt hineingezogen, eine arme, von Touristen gemiedene Gegend, wo der Klang von flatternder Wäsche sich mit dem lebhaften Rascheln von Taubenflügeln mischte. Ohne Vorwarnung fuhr Sasha herum und sah ihm verwirrt ins Gesicht. »Ist das?«, stammelte sie. »Onkel…«
    »Großer Gott! Sasha!«, rief Ted und zog wilde Grimassen, um Überraschung zu mimen. Er war ein miserabler Schauspieler.
    »Du

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