Der große deutsche Märchenschatz
du nichts von meinem Sohn Siegmund hörst! Kannst du mir ihn zurückbringen, so sei meines ewigen Dankes gewiss!« Damit entlieà ihn der König und der Jüngling rüstete sich noch in der Nacht zur Abreise.
Am folgenden Morgen ritt er zum Tor hinaus, begleitet von zwei Dienern, die er sich auserlesen hatte; ohne zu wissen, wohin er ziehen sollte, ritt er dem Sonnenaufgang zu und kam gegen Mittag an ein kleines Gehölz. Da die Sonne so warm schien, stieg er mit seinen Dienern ab und lagerte sich im Gras an einer Stelle, wo man die Aussicht auf ein kleines Tal hatte. In dem Tal stand ein einziges Haus und ein paar muntere Jungen weideten Schafe und Ziegen auf den nahen Höhen. Da ergriff ihn ein sonderbar wehmütiges Gefühl; es regte sich in seinem Innern, als er den Ton der Rohrpfeifen hörte, und es kam ihm vor, als ob er in seiner Jugend schon einmal hier gewesen wäre und die Schafe gehütet hätte.
Wie er so nachdenklich um sich blickte, nahte ein Wanderer, lagerte sich unter einem Baum, zog ein kleines Buch heraus und las darin gar eifrig. Dabei lachte er bisweilen und schien dann wieder sehr betrübt zu sein. »Darf man wohl wissen«, fragte ihn Siegmund, »was für ein Buch das ist, in dem Ihr so eifrig lest?« â »O ja«, sagte der Wanderer, »es ist die Geschichte des Prinzen Siegmund, der unter dem Wasser leben soll und von dem man allerlei erzählt. Vor ein paar Tagen bin ich an das Meeresufer gekommen, wo ein steiler Fels in die Luft hinausragt; dort saà ein alter Mann, der sagte mir, da unten sei noch eine Welt und der Prinz lebe darin; dann schenkte er mir dies Büchlein!« Da erkundigte sich Siegmund genau nach dem Ort und der Fremde beschrieb ihm alles so deutlich, dass er gar nicht irren konnte.
Nun machte er sich sogleich auf und am dritten Tag kam er dorthin. Ein hoher Felsen ragte in das Meer hinaus und die Wellen schlugen an ihn und brausten ohne Aufhören. Siegmund stand lange, sah in das schäumende Meer hinab und dachte sich: »Da drunten soll der Prinz wohnen? Wie soll ich da hinunterkommen?« Er setzte sich nieder und wartete, ob nicht vielleicht der Alte erscheinen möchte, von dem ihm der fremde Wanderer erzählt hatte. Aber er kam nicht. Da wurde es Nacht und der Mond schien am Himmel und leuchtete in stillem Glanz auf das Meer herab. Mit einem Mal rauschte das Wasser mächtig auf und aus den Fluten tauchte ein Greis empor und kletterte mit groÃer Geschwindigkeit an dem Felsen hinauf.
Als er vor ihnen stand, winkte er sogleich den beiden Dienern Siegmunds, sich zu entfernen; zu ihm selbst aber sprach er: »Ich weiÃ, warum du gekommen bist; du willst den Prinzen befreien, der hier schon lange gefangen sitzt; es wird dir aber nicht so leicht gelingen und du kannst dein Leben dabei verlieren. Darum will ich dir einen Vorschlag machen, der für uns beide sehr vorteilhaft ist und dich nur ein kleines Opfer kostet; du ziehst wieder nach Hause zu dem König Christoph und erklärst ihm, ich hätte dir gesagt, du seist sein Sohn! Er wird es dir gewiss glauben; denn ich werde ihm noch einmal im Traum erscheinen, wie ich ihm schon erschienen bin. Darüber wird er eine groÃe Freude haben und wird dich zu seinem Mitregenten erklären; wenn er dann stirbt, bist du König! Den eigentlichen Prinzen will ich schon so bewachen, dass er das Tageslicht nicht mehr erblicken soll. Für diesen groÃen Dienst verlange ich gar nichts als das Leben deiner beiden Diener. Du stürzest sie ins Meer und sagst, wenn dich der König je nach ihnen fragen sollte, sie seien zufällig umgekommen; denn ich bin ein Meergreis und muss alle paar Jahre einige Menschen haben, die mir auf diese Weise geopfert werden, und da du siehst, dass ich groÃe Gewalt besitze und nicht undankbar bin, so könntest du mir wohl den Gefallen tun!«
Er wollte noch weiterreden, aber Siegmund sprach voll Zorn: »Wie, du, schändlicher Greis, willst mich durch deine Versprechungen anlocken, dass ich den König belüge und meine treuen Diener dir opfere? Mach dich davon oder ich stoà dir mein Schwert durch den Leib!« â »Das wirst du wohl bleiben lassen!«, sagte der Alte. »Ein menschliches Schwert kann mir nichts anhaben und meine Macht ist so groÃ, dass ich dich im Augenblick vernichten kann, wenn ich nur will. Aber ich bin groÃmütig und lasse mich sogar zu Bitten herab, wo ich dich doch durch
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