Der große deutsche Märchenschatz
ihm doch sonderbar zumute und er dachte an die Warnung des Alten, als er ihn am Berg verlassen hatte. Er schämte sich aber, den Goldfisch zurückzufordern, und trug den Vogel in sein Zimmer. Am Abend, als er sich eben schlafen legen wollte, blickte er noch einmal in seinen Spiegel, wie ihm der Alte gesagt hatte. Da sah er erschreckt auf seiner Stirne einen schwarzen Flecken. Anfangs glaubte er, das läge wohl am Glas, und rieb daran; aber der Fleck wollte sich nicht abwischen lassen. Wie er jedoch nochmals an dem Glas rieb, da hüpfte die Goldamsel aus dem Käfig heraus und verwandelte sich in den Alten, der mit ernstem Gesicht und drohendem Finger den erschrockenen Knaben anredete: »Siegmund, Siegmund! Hast du mir nicht versprochen, treu und redlich zu sein? Glaub mir, der Spiegel trügt nicht und der Fleck ist nicht im Glas, sondern in deiner Seele!« Da erkannte Siegmund, wie sehr er gefehlt hatte, als er den Goldfisch verschenkte. Er bat den Alten unter Tränen um Verzeihung und versprach ihm aufs Heiligste, nie wieder etwas Ãhnliches zu tun. Der Alte lieà sich durch seine Reue bewegen; er griff in die Tasche und holte einen Goldfisch hervor. »Setz den in den Teich«, sagte er, »und hüte dich in Zukunft vor den Flecken!«
Siegmund tat, wie ihm der Alte gesagt hatte, und lieà sich niemals mehr etwas zuschulden kommen.
Er hatte aber schon mehrere Jahre bei dem Gärtner gelebt und war zu einem kräftigen Jüngling herangewachsen. Da kam eines Tages der König in den Garten und der Gärtner führte ihn umher und zeigte ihm alles, was neu angelegt war; denn es war schon lange Zeit, dass der König den Garten nicht mehr besucht hatte. Er kam auch zu einem Apfelbaum, den er einst in seiner Jugend gepflanzt und mit einem Zaun umgeben hatte. Der Baum trug dieses Jahr zwölf Ãpfel, gelb mit purpurroten Punkten. Das freute den König sehr, sodass er dem Gärtner befahl, sie wohl zu hüten, damit keiner gestohlen würde. »Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen und sie abbrechen!«, sagte er und verlieà den Garten.
Der Gärtner kannte aber die heftige Gemütsart des Königs und beschloss daher, Tag und Nacht zu wachen, damit ja keiner der Königsäpfel entwendet würde. »Wir wollen abwechseln!«, sagte er zu Siegmund. »Wach du die Hälfte der Nacht und die Hälfte des Tages, so will ich die andere Hälfte wachen!« Also wachten sie drei Tage und Nächte. Am vierten aber, als der Gärtner bei dem Baum stand, hörte er in einem andern Teil des Gartens ein groÃes Geschrei und mehrere Menschen um Hilfe rufen. Da lief er schnell in diese Gegend und sah, wie zwei Knaben, die immer um den König waren, einen ihrer Kameraden aus dem Teich zogen, in den er gefallen war. Der alte Gärtner half ihnen dabei und führte den Knaben, der ins Wasser gefallen war, in sein Haus und lieà seine Kleider am Feuer trocknen; er selbst aber ging eilig zu dem Apfelbaum zurück.
Als er jedoch hinkam, sah er, dass sechs der Königsäpfel verschwunden waren. »Ich bin verloren!«, schrie er. »Ich bin verloren, wenn der König erfährt, dass die Ãpfel fehlen!« So jammerte er und rannte wie wahnsinnig um den Baum herum. Auf sein Geschrei eilte Siegmund hinzu und fragte, was es gebe. »Siehst du nicht«, sagte der Alte, »dass nur noch sechs Ãpfel da sind! Wir sind beide verloren, wenn der König kommt!« Siegmund versuchte ihn zu trösten und versprach, den König zu beruhigen; aber es half nichts â der Gärtner war untröstlich, und in demselben Augenblick trat auch schon der König in den Garten, begleitet von allen seinen Pagen, die ihn bedienten. Der Gärtner senkte den Blick zur Erde und erwartete sein Urteil.
»Was fehlt dir?«, fragte ihn der König. Der arme Alte konnte kein Wort hervorbringen, sondern deutete nur mit der Hand auf den Baum; die andere aber legte er aufs Herz und sprach: »Ich bin unschuldig!« Da blickte der König nach dem Apfelbaum, runzelte die Stirne vor Zorn und sprach: »Wenn du mir den nicht schaffst, der die Ãpfel gestohlen hat, so strafe ich dich statt jenem!« Damit ging er weiter. Der Gärtner stand da in stummer Verzweiflung. Wie war es ihm möglich, den Schuldigen zu finden? Er hatte niemand gesehen. »Ich bin verloren!«, rief er aus. »Keiner kann mich retten!«
Siegmund betrübte sich sehr über das
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