Der große deutsche Märchenschatz
Unglück seines geliebten Herrn. Er ging herum und sann auf Mittel, den Dieb zu entdecken; aber er fand nichts. Der Tag verstrich und er hatte noch nichts ausgedacht. Als er aber am Abend wie gewöhnlich in seinen Spiegel sah, kam ihm ein Gedanke, der ihm Hoffnung gab. »Wenn der Spiegel mir meine Vergehen anzeigt«, dachte er, »so wird er es wohl auch bei anderen tun. Geschwind zu dem König!« So dachte er, schlich sich heimlich und schnell in den Palast und begehrte, mit dem König zu reden.
Als er vor ihm stand, warf er sich nieder und sprach: »Gnädiger Herr, das Mitleid mit Eurem alten unschuldigen Diener führt mich zu Euch; erlaubt, dass ich in dem Palast den suche, der die Ãpfel entwendet hat!« â »Das magst du tun!«, sprach der König. »Aber kannst du den Schuldigen mir nicht nennen, dass er sein Vergehen selbst eingesteht, so erhältst du seine Strafe! Ich will alle meine Diener zusammenrufen lassen; da such den Dieb, wenn du kannst!« Darauf lieà er Siegmund in einen Saal führen und alle seine Diener mussten nacheinander hineintreten. Siegmund aber hielt einem jeden den Spiegel vor und sagte: »Wer frei ist von Schuld, der sieht sein klares Angesicht; wer sich aber des Vergehens bewusst ist, dem wird ein schwarzer Fleck die Stirne bedecken!« Es sahen viele hinein und erblickten nichts als ihr Angesicht; endlich jedoch kam auch ein Knabe, den liebte der König sehr. Als ihm aber Siegmund den Spiegel vorhielt, da ward er blass und trat zurück; denn er sah, dass ein groÃer schwarzer Fleck auf seiner Stirne stand. »Nun, wer ist der Dieb?«, fragte Siegmund. â »Ich binâs!«, stotterte der Knabe und sank vor ihm nieder. »Oh, bitte für mich beim König; sonst bin ich verloren!« Da ging Siegmund zum König und stellte ihm den Knaben vor. »Gnädiger König!«, sagte er. »Der istâs, der die Ãpfel genommen hat!«
Der König aber wollte seinen Augen nicht trauen. »Ist es möglich«, rief er aus, »dass du, den ich mit Wohltaten überhäuft habe, so schändlich mein Gebot übertreten konntest?! Man nehme ihn und hänge ihn an seinem Hals an jenen Apfelbaum!« Da fiel Siegmund vor dem König nieder und sprach: »Oh, seid gnädig, edler Herr, und vergebt ihm noch diesmal! Vergeben ist besser als strafen und gütig sein besser als zürnen!« Und der König lieà sich bewegen und verzieh dem Knaben. Zu Siegmund aber sprach er: »Du bleibst fortan bei mir; ich kann deine Dienste noch oft brauchen!«
Da blieb Siegmund am Hofe und ward geachtet wie die anderen königlichen Diener und Räte. Sein Spiegel aber wurde noch oft gebraucht und die Furcht vor Entdeckung war so groÃ, dass kein Bösewicht es mehr wagte, ein Vergehen zu verüben. So kam es, dass Siegmund dem König täglich lieber und unentbehrlicher wurde.
Eines Tages lieà ihn der König zu sich rufen und schloss sich mit ihm in ein Zimmer ein. Er sprach zu Siegmund: »Ich vertraue deiner Verschwiegenheit, indem ich dir ein Geheimnis mitteile. Ich bedarf deines Rates und deines Beistandes. Doch musst du mir bei Verlust deines Lebens versprechen, niemandem ein Wort von dem zu entdecken, was ich dir sagen werde!« Da versprach ihm Siegmund, das Geheimnis auf das Verschwiegenste zu bewahren. »Nun denn«, sagte der König, »so höre! Ich hatte einst einen Sohn, den habe ich unter die wilden Tiere setzen lassen, weil man mir sagte, er würde mich einmal töten. Diese Tat hat mich seitdem sehr gereut und ich hätte vieles darum gegeben, wenn es nicht geschehen wäre. Ich habe nun keinen Sohn, der mich im Alter unterstützen könnte; ich habe keinen Nachfolger, dem ich dereinst, wenn ich sterbe, Krone und Reich übergeben kann; meine Statthalter werden sich dann um die Länder streiten und Unheil und BlutvergieÃen wird die Folge davon sein. Das habe ich mir gestern wieder lebhaft gedacht; ich schlief darüber ein und hatte einen Traum.
Ein alter Mann, so schien es mir, trat auf mich zu und sagte: »Sieh, dein Sohn lebt noch!« Ist nun das nur eine Täuschung oder ist es Wahrheit? Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich schickte sogleich nach dem Hirten, dem ich einst den Knaben zum Aussetzen gegeben hatte; allein der war längst tot und seine Kinder hatten sich zerstreut. Darum mach du dich auf, reise durch mein ganzes Land und erkundige dich, ob
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