Der große deutsche Märchenschatz
sich die Goldamsel sitzen. Nun erinnerte er sich schnell an den vergangenen Tag und das, was ihm da begegnet war. Die Goldamsel aber verschwand in dem Gebüsch und statt ihr trat wieder der Greis hervor. »Ich werde dich jetzt allein ziehen lassen!«, sprach er zu ihm. »Weiter kann ich dich nicht begleiten. Tu recht und scheue niemand! Damit du aber noch ein Andenken von mir hast, so nimm diesen Spiegel; den trag auf deiner Brust und betrachte dich jeden Abend darin! Er hat Eigenschaften, die dir nicht lange unbekannt bleiben werden. Mehr brauche ich dir nicht zu sagen. Leb wohl!« Mit diesen Worten verschwand der Greis und Siegmund stieg vom Berg hinab in die Ebene.
Er wanderte selbigen Tags noch sehr weit und kam endlich bei einer groÃen Stadt an; es war aber bereits Nacht geworden und die Tore waren verschlossen. Da dachte Siegmund: »Wenn ich nur irgendwo ein Haus sähe, in dem ich die Nacht über bleiben könnte. Doch hier ist alles wie ausgestorben!« Er wanderte noch ein Stück an der Mauer fort, welche die Gärten vor der Stadt umschloss, und kam an eine Türe, die führte in einen groÃen prächtigen Garten. Er versuchte, ob sie sich nicht öffnen lieÃe, und zu seiner groÃen Freude tat sie sich auf. Er trat hinein und befand sich in einem langen Laubgang, der führte zu einem kleinen Gebäude, das einem Tempel ähnlich sah. Seine Türe war verschlossen; aber vor einem Baum war ein weicher Rasensitz. Dort beschloss er zu übernachten. Bevor er sich jedoch niederlegte, zog er den kleinen Spiegel hervor, den ihm der Alte geschenkt hatte, und blickte hinein. Er sah darin sein eigenes Bild in hellem Tageslicht und wunderte sich sehr, weil der Spiegel einen Glanz von sich gab, dass alles um ihn her davon erleuchtet wurde. Froh über diese Entdeckung legte er sich zur Ruhe und schlief bald ein.
Er mochte aber noch nicht lang geschlafen haben, da fühlte er, dass ihn jemand am Arme fasste; er wachte auf und erblickte vor sich einen alten Mann mit einer Laterne â der fragte ihn, wie er in den Garten gekommen sei. Siegmund erzählte ihm alles genau und bat ihn, ob er ihm nicht erlauben wolle, bis morgen dazubleiben. Der Mann, dem der Knabe gefallen mochte, nahm ihn mit in sein Haus, das in einem dichten Gehölz stand. »Du kannst heute Nacht bei mir bleiben!«, sprach er und setzte ihm etwas zu essen vor, das sich der Knabe trefflich schmecken lieÃ. Dann führte er ihn in ein kleines Zimmer, wo ein Bettchen stand, und wünschte ihm gute Nacht. Siegmund legte sich nieder und schlief, bis die Sonne schon hoch am Himmel war. »Das heiÃt aber lange schlafen!«, sagte er und kleidete sich schnell an, um von seinem freundlichen Wirt Abschied zu nehmen. Dieser aber sprach: »Hör, Knabe, wenn es dir gefällt, so bleib bei mir! Ich brauche gerade so einen Jungen, wie du bist, der mir im Garten hilft. Du sollst es gut bei mir haben!« â Da versprach ihm der Knabe, zu bleiben.
Der Mann aber war ein Gärtner, der des Königs Garten zu besorgen hatte. Des Morgens und Abends musste Siegmund die Zitronenbäume und Blumen begieÃen, die wie ein ordentlicher Wald in dem Garten gepflanzt waren. Am Mittag durfte er dort herumgehen und arbeiten, was er wollte. Er besah dann die schönen Springbrunnen und die Vogelhäuser mit den wunderschönen Vögeln, die Teiche mit den weiÃen Schwänen und den glänzenden Goldfischen.
Er hatte aber bald Freundschaft geschlossen mit einem anderen Knaben, der kam des Nachmittags zu ihm in den königlichen Garten. Einmal standen sie an dem Teich, in welchem die Goldfische waren, und schauten zu, wie diese lustig auf und ab schwammen, und warfen ihnen Brosamen hinein. Da sagte der Nachbarsknabe: »Wenn ich doch so ein Fischlein hätte! Du könntest mir wohl eins davon geben; ihr habt ja so viele!« â »Das darf ich nicht!«, entgegnete Siegmund. »Sie gehören dem König und ich darf nicht verschenken, was nicht mein ist!« â »Ei, was tutâs denn?«, sagte der andere. »Auf einen Fisch wird es nicht ankommen! Ich schenk dir auch einen recht schönen Vogel dafür!« Da dachte Siegmund: »Nun, das wird nichts zu sagen haben!« Er haschte also mit leichter Mühe einen Fisch heraus. Der Nachbarsknabe aber trug ihn fort und brachte ihm einen schönen gelben Vogel; es war eine Goldamsel.
Wie nun Siegmund die Goldamsel sah, da ward
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