Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung Londons pro Jahrzehnt um 20 Prozent. Mehr als tausend Menschen kamen Tag für Tag hinzu, und trotz umfangreicher Bauprogramme und überfüllter Slums hatte ein beachtlicher Teil der Bevölkerung kein Dach über dem Kopf. Solche Leute verbrachten ihre Nächte im Freien, wo immer die Polizei mit ihren verhaßten Handlaternen sie in Ruhe ließ. Bevorzugte Schlafplätze waren die sogenannten »Brückenhotels«, vor allem Eisenbahnunterführungen.
Aber es gab noch zahlreiche andere Schlupfwinkel: baufällige Häuser, Hauseingänge, Heizungskeller, Remisen, leere Markthallen, Hecken, Schuppen und Außenklosetts – alles was Schutz vor den Unbilden des Wetters versprach.
Damals gab es selbst in eleganten Häusern keine sanitären Einrichtungen. Arme wie Reiche benutzten Außenklosetts, die ebenso wie die öffentlichen Bedürfnisanstalten, die damals aufkamen, bei Pennbrüdern beliebte Nachtquartiere waren.
Die Pennbrüder waren oft Trunkenbolde, und der Rausch half ihnen sicherlich, den Gestank und die Unbequemlichkeit ihrer Unterkünfte leichter zu ertragen, Pierce hatte an einen Pennbruder gedacht, da diese Leute es gewohnt waren, viele Stunden lang auf engstem Raum zuzubringen. Henson soll denn auch erklärt haben, als man ihn in die Kiste sperrte: »So bequem habe ich lange nicht mehr gelegen.«
Die Holzkiste wurde im London Bridge-Bahnhof an einer günstigen Stelle abgestellt. Durch die Ritzen konnte Henson den Nachtwächter beobachten. Nach der ersten Nacht wurde
die Kiste abgeholt. Sie erhielt einen anderen Farbanstrich und wurde dann wieder zum Bahnhof gebracht. So verfuhr man drei Nächte hintereinander. Dann berichtete Henson, was er herausgefunden hatte. Es klang wenig ermutigend.
»Der Bursche ist zuverlässig«, erklärte er Pierce. »Zuverlässig wie diese Uhr.« Er hielt die Stoppuhr hoch, die Pierce ihm mitgegeben hatte. »Er kommt Schlag sieben mit seiner kleinen Papiertüte, in der er sein Abendbrot mitbringt. Und dann sitzt er auf den Stufen, ist immer hellwach, schnarcht nie einen weg und grüßt jedesmal den Polypen, wenn der auf seinem Rundgang vorbeikommt.«
»Wie sieht’s mit den Runden aus?«
»Der erste Polyp arbeitet bis Mitternacht. Er schafft alle elf Minuten einen Rundgang durch den Bahnhof. Manchmal dauert’s zwölf, ganz selten auch dreizehn Minuten, aber im allgemeinen sind es elf. Der zweite Mann arbeitet von Mitternacht bis Tagesanbruch. Der hat Hummeln im Hintern. Er hält sich an keine feste Zeit, sondern geht mal hierhin, mal dorthin, taucht überall auf wie ein Springteufel und behält alles genau im Auge. Außerdem hat er zwei Kracher am Gürtel.«
»Und was ist mit dem Burschen an der Bürotür?« fragte Pierce.
»Zuverlässig, wie ich schon sagte, verdammt zuverlässig. Kommt um sieben, schwatzt ein bißchen mit dem ersten Polypen – der zweite ist allerdings Luft für ihn, den mustert er bloß kalt, wirklich. Aber den ersten, den mag er anscheinend. Ab und zu redet er mit ihm, aber immer nur im Vorbeigehen und bloß ein paar Worte – der Polyp bleibt nie dabei stehen.«
»Verläßt diese Kröte denn nie ihren Platz?« wollte Pierce wissen.
»Nein«, erwiderte Henson. »Sitzt einfach nur da, und dann hört er die Glocken von St. Falsworth die volle Stunde schlagen, und jedesmal, wenn sie läuten, hebt er den Kopf und lauscht. Und dann um elf macht er seine Tüte auf und haut sich
den Bauch voll – immer wenn’s elf schlägt. Dann ißt er so zehn, fünfzehn Minuten und trinkt eine Flasche Bier dazu, und dann kommt der Polyp wieder vorbei. Danach macht der Kerl sich’s bequem, lehnt sich an den Türpfosten und wartet, bis der Polyp das nächste Mal vorbeikommt. Dann ist es halb zwölf oder so. Und dann geht der Polyp wieder weiter, und der Nachtwächter geht zur Toilette.«
»Dann geht er also doch mal von der Tür weg«, sagte Pierce.
»Aber nur zum Pissen.«
»Und wie lange bleibt er weg?«
»Hab mir schon gedacht, daß Sie’s genau wissen wollen. Darum hab ich die Zeit genommen«, sagte Henson. »Am ersten Abend hat er vierundsechzig Sekunden gebraucht, am zweiten achtundsechzig und am dritten wieder vierundsechzig. Immer zur gleichen Zeit, etwa um halb zwölf. Wenn der Polyp auf seiner letzten Runde vorbeikommt, ist er wieder auf seinem Posten, Viertel vor zwölf, und dann kommt der zweite Polyp zum Dienst.«
»Und so hat er’s jeden Abend gemacht?«
»Jeden Abend. Das Bier, verstehen Sie? Wenn einer Bier trinkt,
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