Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
und Gehabe aber die gewöhnliche Herkunft verrieten.
Pierce war Junggeselle und Lebemann, und Henry Fowler traute ihm zu, daß er in aller Öffentlichkeit mit einer Geliebten an die See reiste, aber eine solche wäre mit Sicherheit vornehm gekleidet gewesen und nicht bescheiden wie diese Frauensperson. War sie ein Dienstmädchen aus Pierce’ Haus? Aber dann hätte er sich mit ihr nicht so in aller Öffentlichkeit auf einem Bahnhof gezeigt, es sei denn, es gab dafür einen plausiblen Grund, den Fowler jedoch nicht erraten konnte.
Dann stellte er außerdem noch fest, daß das Mädchen geweint hatte. Ihre Augen waren rot gerändert, und auf ihren Wangen konnte man die Spuren der Tränen sehen.
Es war also alles höchst verblüffend und ungewöhnlich, und …
Pierce befreite Fowler aus seiner Verlegenheit. »Bitte verzeihen Sie«, sagte er zu dem Mädchen. »Ich sollte Sie vorstellen, aber ich kenne Ihren Namen nicht. Dies ist Mr. Henry Fowler.« Das Mädchen schenkte ihm ein geziertes Lächeln und sagte:
»Ich bin Brigid Lawson. Guten Tag, Sir.«
Fowler grüßte mit einem unbestimmt höflichen Kopfnicken, während er sich den Kopf zerbrach, welche Haltung diesem Wesen gegenüber nun korrekt sei: Einerseits war sie offensichtlich ein dienstbarer Geist (und daher nicht seinesgleichen), andererseits aber auch eine Frau in Trauer (und hatte daher Anspruch darauf, daß er sich ihr gegenüber wie ein Kavalier benahm). Aber schon schaffte Pierce völlige Klarheit.
»Miss Lawson hatte soeben ein sehr aufwühlendes Erlebnis«, sagte Pierce. »Sie reist mit diesem Zug, um ihren verstorbenen Bruder zu begleiten, dessen Sarg im Packwagen steht. Vorhin hat aber das Glöckchen geläutet, und es bestand die Hoffnung, ihr Bruder könne noch am Leben sein, und der Sarg wurde geöffnet …«
»Verstehe, verstehe«, sagte Fowler, »sehr traurig …«
»… aber es war falscher Alarm«, setzte Pierce hinzu.
»Und damit doppelt schmerzlich, wie ich annehme«, sagte Fowler.
»Ich habe mich erboten, ihr unterwegs Gesellschaft zu leisten«, sagte Pierce.
»Das würde ich in der Tat auch tun«, sagte Fowler, »wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Übrigens …« Er zögerte. »Würden Sie mich für sehr aufdringlich halten, wenn ich mich Ihnen anschlösse?«
Pierce zögerte einen Augenblick. »Nicht im geringsten«,
sagte er unbefangen. »Das heißt, es sei denn, Miss Lawson …«
»Sie sind wirklich zu nett, alle beide«, sagte das Mädchen mit einem tapferen, aber dankbaren Lächeln.
»Also abgemacht«, sagte Fowler, der ebenfalls lächelte.
Pierce bemerkte, daß er das Mädchen interessiert musterte.
»Aber wollen wir nicht in mein Abteil gehen – es ist nur ein kleines Stück weiter vorn.« Er deutete auf einen Erster-KlasseWagen.
Pierce hatte natürlich die Absicht, im letzten Abteil des hintersten Erster-Klasse-Wagens zu sitzen. Von dort aus würde er den kürzesten Weg zum Gepäckwagen am Ende des Zuges haben. Immerhin mußte er über die Wagendächer dorthin gelangen.
»Ach, wissen Sie«, sagte Pierce, »ich habe selbst ein Abteil, dort hinten.« Er zeigte auf den hinteren Teil des Zuges. »Mein Gepäck ist schon dort, und den Träger habe ich schon bezahlt und fortgeschickt …«
»Mein lieber Edward«, sagte Fowler. »Warum um alles in der Welt sitzen Sie denn so weit hinten? Die besseren Abteile sind doch weiter vorn, wo die Fahrtgeräusche nicht so stören. Kommen Sie mit mir, Sie sind vorn sicher komfortabler untergebracht, und da es Miss Lawson nicht gutzugehen scheint …« Er zuckte die Achseln, als wäre die Schlußfolgerung selbstverständlich.
»Nichts wäre mir lieber«, sagte Pierce. »Aber ich muß gestehen, daß ich mein Abteil auf Anraten meines Arztes gewählt habe. Ich habe mich nämlich auf früheren Bahnreisen immer sehr unwohl gefühlt. Mein Arzt hat dieses Unwohlsein auf Vibrationen zurückgeführt, die von der Lokomotive ausgehen, und mir dringend geraten, mich so weit wie möglich von der Lokomotive entfernt aufzuhalten.« Pierce lachte kurz auf.
»Er hat sogar gesagt, ich solle Zweiter Klasse reisen. Aber das bringe ich nicht über mich!«
»Kein Wunder«, sagte Fowler. »Es gibt Grenzen für eine gesunde Lebensweise, aber von einem Arzt kann man natürlich nicht erwarten, daß er das weiß. Mein eigener Arzt hat mir sogar einmal geraten, ich solle keinen Wein mehr trinken – können Sie sich diese Unverfrorenheit vorstellen? Also schön, dann fahren wir eben in Ihrem Abteil.«
Pierce
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