Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
zog sich auch deswegen in die Länge, weil das arme Mädchen in verständlicher Pein die Bemühungen der beiden Männer störte.
Die beiden Männer arbeiteten in fieberhafter Eile. Unterdessen rief das Mädchen ständig: »O Richard … Mein Gott! Bitte, machen Sie schnell! Er lebt … lieber Gott, er lebt! Gott sei gelobt!« Die Glocke läutete und läutete.
Eine beachtliche Menschenmenge hatte sich bereits angesammelt. Die Schaulustigen standen wenige Schritte entfernt auf dem Bahnsteig und betrachteten das bizarre Schauspiel.
»Oh, beeilen Sie sich, sonst ist es zu spät«, rief das Mädchen. Und die Männer arbeiteten wie wild an den Riegeln.
Als sie nur noch die beiden letzten Riegeln vor sich hatten, hörte der Fahrdienstleiter das Mädchen rufen: »Oh, ich hab’s doch gewußt, daß es nicht die Cholera ist! Dieser Quacksalber, so etwas zu behaupten! Oh, ich hab’s doch gewußt …«
Die Hand auf dem Riegel erstarrte. »Cholera?« fragte der Fahrdienstleiter.
»Beeilen Sie sich doch!« rief das Mädchen. »Ich warte schon fünf Tage auf das Läuten der Glocke …«
»Sagten Sie Cholera?« fragte der Fahrdienstleiter noch einmal. »Fünf Tage?«
Aber der Neffe, der nicht aufgehört hatte, die Riegel zu bearbeiten, riß jetzt den Sargdeckel weit auf.
»Gott sei gedankt!« rief das Mädchen und wollte sich auf die im Sarg liegende Gestalt werfen, wie um den Bruder zu umarmen. Sie erstarrte aber mitten in dieser Bewegung, was nur zu verständlich war. Dem geöffneten Sarg entquoll eine fast greifbare Dunstwolke, ein unglaublich widerwärtiger, übler Gestank, und die Ursache dieses Geruchs war klar: Der Körper des Toten, der da in seinem besten Sonntagsstaat, die Hände auf der Brust gefaltet, im Sarg lag, war bereits eindeutig in Verwesung übergegangen.
Gesicht und Hände waren fleckig und gedunsen und hatten eine abstoßende graugrüne Farbe angenommen. Die Lippen waren schwarz, ebenso die teilweise hervortretende Zunge. Der Fahrdienstleiter und sein Neffe betrachteten das grausige Bild, als das Mädchen mit einem letzten herzzerreißenden Schrei in Ohnmacht fiel. Der Neffe sprang sofort hinzu, um sie aufzufangen, und der Fahrdienstleiter machte sich mit nicht geringerem Eifer daran, den Deckel zuzuwerfen und die Riegel noch schneller zu schließen, als er sie geöffnet hatte. Die Menge der Schaulustigen löste sich ebenso geschwind auf, nachdem sie gehört hatte, daß der Mann an der Cholera gestorben war. In Blitzesschnelle war der Bahnsteig so gut wie leergefegt.
Das Mädchen erholte sich bald von seiner Ohnmacht, verharrte aber in einem Zustand tiefer Trauer und Niedergeschlagenheit. Immer wieder fragte sie: »Wie ist das nur möglich? Ich habe doch die Glocke gehört. Haben Sie sie nicht auch gehört? Ich habe sie wirklich gehört. Sie nicht auch? Er hat doch die Glocke geläutet.«
McPherson tat sein Bestes, um sie zu trösten. Er sagte ihr, irgendein leichtes Beben des Erdbodens oder ein plötzlicher Windstoß hätte wahrscheinlich die Glocke zum Läuten gebracht.
Der Fahrdienstleiter, der seinen Neffen mit dem armen Kind beschäftigt sah, übernahm es selbst, das Verladen des Frachtguts in den Packwagen des Zuges nach Folkestone zu überwachen. Er tat dies mit so viel Sorgfalt, wie er nach diesem schrecklichen Erlebnis noch aufbrachte. Zwei vornehm gekleidete Damen mit riesigen Koffern erschienen, und trotz ihrer hochmütigen Proteste bestand er darauf, daß beide Gepäckstücke geöffnet wurden, damit er sie inspizieren könne. Danach ereignete sich nur noch ein weiterer Zwischenfall, als nämlich ein wohlbeleibter Herr einen Papagei – jedenfalls war es ein großer, vielfarbiger Vogel – zum Packwagen brachte und verlangte, daß sein Diener bei dem Vogel bleiben und für sein Wohlergehen sorgen solle. Der Fahrdienstleiter verweigerte die Erlaubnis und wies auf die neuen Vorschriften hin. Daraufhin wurde der Herr zunächst ausfallend und erklärte dann in freundlicherem Ton, er werde sich auch gern »erkenntlich zeigen«. Der Fahrdienstleiter aber, der die ihm angebotenen 10 Shilling mit mehr Interesse betrachtete, als er sich selbst einzugestehen wagte, war sich ohnedies bewußt, daß Burgess ihn beobachtete – ausgerechnet der Wachmann, den er tags zuvor abgekanzelt hatte. Er lehnte ab, und der wohlbeleibte Herr stapfte, Verwünschungen murmelnd, davon.
All diese Zwischenfälle waren nicht geeignet, die Laune des Fahrdienstleiters zu verbessern, und als der übelriechende Sarg
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