Der Große Fall (German Edition)
»Maulhalten!« oder »s’ Maul!« bedeutete. Das Wort wurde jeweils gebrüllt, aus einem überdicken Hals, und schien an jemand Bestimmten gerichtet, nicht unbedingt an den Hund oder Hämmerer jenseits der Bäume, sondern einen in der Nähe, im Nebenraum. Und zugleich war der oder die Angeschriene nicht jemand von jetzt, vielmehr aus einer fernen Vergangenheit. Es ging da nicht gegen seine Mutter, und doch gegen eine Frau. So hatte er wider Erwarten einmal eine Frau gekannt, hatte sogar mit ihr gelebt. Und sie hatte ihn betrogen, und ihn verraten und verlassen. Nein, sie hatte ihn betrogen, und er hatte sie verstoßen. Und dann hatte er vor Kummer und Gram über die verratene Liebe den Verstand verloren und war in die Wälder verschwunden.
Sein Aufbrüllen, mit dem immergleichen Wort, in der immergleichen Tonstärke und -lage, setzte sich fort, und es war klar, daß es jedesmal als eine Antwort auf ein jähes Geräusch, einen Laut erfolgte. Hatte es zuerst noch geschienen, er schriee das »Dein Maul!« nur gegen diesen und jenen Lärm, ausschließlich gegen einen, der von draußen hier herein in die Natur drang, so zeigte sich mit den Fortsetzungsschreien, daß sie ebenso von den Lauten im Wald, des Walds selber, ausgelöst werden konnten. Eine Amsel trillerte los: »Maulhalten!« Ein Helikopterknattern: »Maul!« Dann eine Kinderstimme, die nach jemand rief: »Dein Maul!« Auf ein Zugpfeifen: »…!« Auf das Aufrascheln eines leeren Plastikbeutels im Dickicht: »…!« Sogar die heimlichsten der Geräusche, von den Häusern draußen, von den Bäumen hier, ein einziger Geigen- oder Harmonikaton, hergetragen vom Sommerwind; zwei Äste zu ihrer beider Häupten, welche sich in ebendem Wind aneinanderrieben und etwas verlauten ließen, was so sanft von einem Menschenpaar nur zu allen heiligen Zeiten zu hören war; ein einziges Grillenaufzirpen ließ ihn losbrüllen: »Halt’s Maul!« – »Ta gueule!« Und als es, wie immer wieder im Hochsommer, völlig still wurde, und auch lange so blieb, nicht einmal ein Rauschen im Laub, nicht einmal ein Sieden dort, still wie für immer und ewig: »Maulhalten! Maulhalten!Maulhalten!« Es wurde dann klar: Er wollte sich zu Tode schreien.
Der Schauspieler neben ihm gab den Zuschauer. Er ging mit dem Gebrüll mit, nickte im Takt, bewegte lautlos die Lippen, als buchstabiere er es nach. Half es, sein Zuschauerspiel, zum Innehalten? Beschwichtigte es, ließ zur Besinnung kommen und sorgte, wie das so oft schon geschehen war, für einen augenblicksweisen und vielleicht nach dem Kinoausgang eine kleine Zeitlang fortdauernden Frieden? Es half nicht, auch nicht für einen Augenblick. Sein Zuschauen wurde gar nicht wahrgenommen. Da saß oder lag der Schreier, und keine Kunst der Welt, und schon gar nicht die des Schauspieler-Zuschauers, konnte ihm helfen. Dann schon eher die Myriaden von Fliegen auf ihm und um ihn herum, und dazwischen, wieder seltsam, die zahlreichen Falter, in allen Spektralfarben, und, noch seltsamer, die eine oder andere der Honigbienen, auf seinem Scheitel (oder was davon übrig war), auf seinen Schultern, auf seinem Hosenschlitz, dem mit einer Sicherheitsnadel geschlossenen.
Bemerkenswert wieder, daß der einstige Blickfreund einerseits bei jeder Begegnung ungestalter geworden war, andererseits – anfangs als der Schöne, behaustin der tiefsten Tiefe der Wälder – von Mal zu Mal sich deren Rändern und damit den Ausläufersiedlungen der Megapole angenähert hatte. Inzwischen die Ungestalt selbst, war er in eine Hörweite (Sicht oder überhaupt Sehen, das schien bei ihm auf immer vorbei) an die Häuser und Straßen gerückt, daß ihm kein Geräusch von daher entgehen konnte. Nicht nur die Rasenmäher und Preßlufthämmer, auch die Staubsauger, die Wasch- und Geschirrspülmaschinen im Innern der Häuser drückten und schlugen ihm unmittelbar auf die Hörnerven, sirrten, rumorten, tobten gleich neben, ja in ihm selber. Eine Brotscheibe sprang aus dem Toaster in einem Haus der zweiten Reihe nach dem Waldrand, und schon brüllte er dagegen an. Und das gleiche geschah beim Anspringen eines Heizofens in einem Kellerraum irgendwo, beim Schnippen einer mechanischen, nicht einmal maschinellen Heckenschere – die vielleicht bloß das Zirpen eines Vogels war –, beim Surren eines Fahrraddynamos fern in der Nacht, beim noch ferneren Knirschen eines Schlüssels in einem Gartentorschloß in der Nachtstille, ein Knirschen, das auch das Husten eines Igels, da zu seinen
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