Der Große Fall (German Edition)
Ländern und Kontinenten. Ganze Familien und Sippen waren da im Waldrandgestrüpp am Beerensammeln, und nicht nur Osteuropäer,sondern auch, und zwar meist in der Mehrzahl, Asiaten – nur, seltsam, keine Afrikaner, keine Schwarzen – von den Großeltern und vielleicht Urgroßeltern bis hinab zu den kaum erst greif- und noch nicht einmal steh- oder gehfähigen Kleinkindern, getragen in einem Rückensack von Vater, Mutter, Onkel, Tante, Geschwistern, während hier und da ein Uralter huckepack genommen war von einem Jüngeren, ein besonderes Pflückerpaar. Und nicht bloß auf diesen einen Tag waren diese Sammlerheere eingerichtet – neben den Hecken war im tiefen Gras ein Zeltlager aufgeschlagen, eher bloße Einschlüpfe mit Feuerstellen, wenn nicht für Dauer, so für die zwei, drei Wochen, während deren die Brombeeren reiften und nachreiften, und auf dem nicht mehr gar fernen Zufahrtsweg reihten sich die Lieferwagen für den Abtransport. Unter diesen Sammlern war der dort mit dem Kopf jetzt im Ameisenhaufen die Ausnahme gewesen, die Elite.
4
Als der Schauspieler die Lichtung waldaus, stadtwärts, verließ, ging er die letzten Schritte rückwärts. Das war mir schon öfter an ihm aufgefallen, wenn er von einem Ort Abschied nahm, der ihm etwas bedeutete, nicht allein in seinen Filmen, da aber, länger oder sehr kurz, in einem jeden, manchmal auch kaum merklich, wie die Sekundenauftritte Alfred Hitchcocks in dessen Filmen, und ich fragte mich, ob nicht auch solch ein Rückwärtsgehen, weg von einem Ort mit ihm im Blick, eine von ihm erfundene Sportart sei.
»Daß ich jetzt rückwärtsgehe« – so wieder er zu sich selber – »das heißt, daß ich dem Ort unrecht getan habe. ›Verdammte Lichtung!‹, so habe ich sie geschimpft, und zwischen dem Laub an den Säumen die auf jemanden zielende Pistole aus ›Blow Up‹ gesehen, hinter jedem Blatt. Indem ich rückwärts fortgehe von dem Ort, will ich mich bei ihm entschuldigen. Wer hat bloß gesagt, daß die Könige nie gelernt haben, rückwärts zu gehen? Einen König Rückwärtsgeher: So einen möchte ich spielen!«
Das alles sagte der Schauspieler unhörbar, und er drückte es einzig aus mit seinem Gehen, wie ja überhaupt sein Gehen eine Spielart des Sprechens war. Sein Gehen, es sprach, es erzählte. Nur sollte sich das im Lauf jenes Tages, welcher schloß mit dem Großen Fall, noch ändern.
Auf seinen früheren Gängen von den äußersten Rändern stadtein war er einem einzigen Menschen begegnet, mit dem er dann eine Art Bekanntschaft geschlossen hatte. Das war einer der Buschmenschen gewesen, und es hatte geschienen, daß der, wie die übrigen aus der Gesellschaft Geschiedenen, sich inzwischen weiß der Himmel wohin verzogen hatten. Gegen Ende des Waldes, wo der Weg zu einer Trimmstrecke wurde, traf er ihn jetzt aber wieder. Er erkannte ihn an seiner Narbe quer über die Stirn, er wäre sonst nicht wiederzuerkennen gewesen, nicht einmal von seiner Mutter oder von seinen etwaigen Kindern. Schon die vorigen Male hatte der Schauspieler das Gesicht des Mannes jeweils ruckartig verändert gefunden. Heute aber war nichts mehr von seinem Gesicht, überhaupt einem Gesicht zu sehen, vor allem keine Augen, obwohl an deren Stelle etwas war, bei dem in ein Obduktionsprotokoll »rechtes Auge«, »linkes Auge« eingetragen würde. Bei der ersten Begegnung war der andere ihm, wie kaum je einMann, schön vorgekommen. Das rührte auch von der Scheu, einer wie tänzerischen, welche nicht nur die eines Waldmenschen war. Er verkörperte, immer in der Distanz sich bewegend, die Scheu und den Stolz in einer Person. Nie hatten sie ein einziges Wort gewechselt, sich bloß so, fast aus der Ferne, mit den Augen gestreift, und das waren schon die Begegnungen gewesen, oder nein: einmal war er auf ihn zugegangen, worauf sein hiesiger Bekannter sich schnurstracks, zugleich wie elegant!, verdrückt hatte – Ende der Begegnung.
Nie auch war er zu sehen, in den Wäldern oder auf den Randstraßen, in Gemeinschaft der Waldmitbewohner, von denen nicht die wenigsten zusammen in kleinen Zeltdörfern hausten, fast in einem Kral. Er wirkte, so oder so, nicht als einer aus einem Zelt, und die Frau, die ihn, wie so viele, scharf im Blick hatte – er stand oft für Stunden reglos am Waldrand bei ihrem Anwesen –, meinte, er schlafe jeden Abend in der Wohnung seiner Mutter, die ihm das Nachtmahl auf den Tisch stelle, für ihn wasche und bügle und ihm auch noch regelmäßig die Haare schneide.
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