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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Erdbeeren! Vor einem Monat die Himbeerzeit, mit Beeren zwar kleiner, aber so anders süß als die falschen dicken von den Plantagen (bloß daß die Brombeersträucher Jahr um Jahr mehr von den zarten Himbeerpflanzen unter sich erstickten). Und jetzt die Zeit der Brombeeren, der Früchte des Mittsommers, des Hochsommers. Zwar immer mehr Kahlschläge in den staatlichen Wäldern, oder seinetwegen Schonungen – nur würde es für die neugepflanzten Eichen, wenn die überhaupt je groß werden sollten, in fünfzig Jahren keine Augen mehr geben –, aber in diesen Kahlschlägen, wo die Sonne besonders stark schiene, mehr und mehr Brombeeren, und was für welche! Und niemand, der sie pflücke, ernte, einheimse, nicht einmal die bedürftigen Zugewanderten aus Osteuropa oder sonstwoher. Nicht er sei es,der sich zu schämen habe. Dabei sei das heutzutage doch längst keine Epoche des Überflusses mehr, gottlob. Er habe es aufgegeben, diese Welt zu verstehen, und das kümmere ihn auch keinen Deut, wenn er bei seinem Sammeln unter dem freien Himmel sei, eingesponnen in ihn.
    Sein Sammeln, er sähe es als eine Kunst. Es bestehe aus Forschergeist, Rhythmus und Fingerspitzengefühl. Das Langen nach den Früchten zwischen den Dornen wolle Griff um Griff bedacht sein. Die Gier beim Sammeln sei nicht von vornherein ein Übel, sie sei eine kindliche, freudige, und dazu da, sie mithilfe des Fingerspitzengefühls in die Freude zu überführen. So würden einerseits die Beeren zügig, eben im Rhythmus gepflückt, andrerseits einzeln, behutsam, ohne Rucken und Reißen, damit nicht die Nebenfrüchte, oft die reifsten und besten, dabei abfielen, unzugänglich tief in dem Dornunterholz. Die großen Beeren seien im übrigen nicht notwendig die reifsten, an der Unterseite oft noch grün, und würden dort auch so bleiben, ohne weiterzureifen, und er habe die Entdeckung gemacht, daß die süßesten Beeren nicht etwa in der prallen, auf die Kahlschläge taglang herabbrennenden Sonne zu finden seien, vielmehr versteckt unter den Blättern, ständig im Schatten dort: ah, was für ein Zergehen im Mund,einer einzigen solchen Schattentraube, ein Seim (sic) bis in den hintersten Gaumen und von dort weiter hinauf bis unter die Schädeldecke. Und eine Kunst sei sein Sammeln, weil es ein Ernten darstelle.
    Zuletzt ging der Börsenmakler als Beerensammler zurück in die Hocke und führte seine Kunst vor. Er pflückte, eher zupfte, die Brombeeren beidhändig, einmal mit der Rechten, einmal mit der Linken, undsofort, nie mit beiden Händen gleichzeitig, in der Regel mit Griffen von unten, wozu er mit den Lippen Töne erzeugte, die das Klingklang einer Harfe nachmachen sollten. Zwischendurch hob er immer wieder sein Sammelgefäß, einen altertümlichen weißblaugeblümten Emaileimer, gekauft in einem Antiquitätengeschäft im Londoner Stadtteil Chelsea oder sonstwo. Den Harfenteil zuende gespielt, ging er dazu über, im Rhythmus des Sammelns in den Sprechknopf nah dem Mund Zahlen einzugeben, denen er jeweils einen Aktien-oder-was-auch-Namen voranstellte, und erklärte zwischendurch, sein Sammeln schärfe ihm den Sinn für die Zahlen. Sie kämen ihm dabei so lebhaft vor Augen wie die Beeren, mit einem Glänzen, welches der Glanz des Unumstößlichen sei. Sein so gewonnener Zahlensinn habe noch keinmal getrogen, und so werde dies auch bleiben.
    Der Beerensammler würde nie mehr aus dem Dorngestrüpp herauskommen. Ein Wespennest, Grau in Grau, hing da im Verborgenen und baumelte, als sei es längst leer, leicht im Sommerwind. Sowie er daran rührte, würde ein Geschwader aus diesem luftigen Hangar brechen und in einem einzigen großen Sirren auf ihn losschießen. Gestochen von der Hundertschaft in die Lippen, die Zunge, den Rachen, wäre die Zahlenlitanei abgebrochen und er läge augenblicks unten zwischen den Dornen, erstickt. Die Hecke würde buchstäblich im Zusehen über ihm zuwachsen, und der mächtige Ameisenhaufen zu seinen über Kreuz verkrampften Füßen, rotwimmelnd, wäre ebenso dabei, sich zu verlagern hin zu seinem Kopf. Niemand würde sein Verschwinden und vom Erdboden Verschlucktwerden bemerken. Er hatte keine Angehörigen, und wenn.
    Auch die Sammler in den Nachbarhecken – er war, anders als er es vorgespiegelt hatte, bei weitem nicht der einzige gewesen – hätten den Ausfall nicht mitbekommen. Es waren im übrigen die, deren Vergessen des urmenschlichen Sammlertums er hervorgehoben hatte, Umsiedler aus den ärmeren, und täglich noch ärmeren

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