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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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durch die Stadt gedreht werden sollte, mit ihm als dem Hauptdarsteller, in der Rolle eines Amokläufers, wilder und bitterer im Krieg gegen die Welt als der Taxidriver des Robert de Niro, und wie gerade das »Halt’s Maul«, so entfuhr ihm jetzt ein: »Ich werde den Film nicht drehen. Ich werde ihn nicht einmal absagen, einfach nicht erscheinen. Und auch zum Preisfest heute abend werde ich nicht hingehen.« Meinte er das? Nein. Es war, wie fast die Regel in seinen Selbstgesprächen, bloß so dahergesagt. Und doch wollte er es dann förmlich zurücknehmen. »Ich darf nicht so reden. Ich verbiete es mir. Nur: sich selber etwas verbieten, wirkt nicht – bewirkt nichts. Ein Dritter muß mir verbieten. Aber wer?«
    Zu seinen Füßen, vor seinen Schuhen, unter dem nach dem Morgengewitter zartblauen, das Meer ahnen lassenden Sommerhimmel, lag die ganze Stadt. Es war die ganze Stadt, obwohl sie sich hinter den jenseitigen Hügeln und auf den Plateaus dort fortsetzte, und es war ein Daliegen, mitsamt den Bezirken der dicht auf dicht ragenden Wolkenkratzer und den vereinzelten Büroturmriesen. Nicht bloß die klare Luft und das Licht ließen die Stadt schön erscheinen. Sie war für sich schön, in ihrer wie naturgewachsenen Größe und baulichen Kleinteiligkeit, und beides im Ebenmaß. Das Licht verstärkte im Ganzen das vorherrschende Weiß und milderte es im Einzelnen, so wie es die verstreuten dunklen, jeweils entschieden höheren Bauten dem allgemeinenkleinteiligen Weiß zuordnete. Von seinem Standort wurde von der Stadt kaum eine Bewegung, auch kein Geräusch, erfaßbar, und doch pulste von dort ein Rhythmus zu ihm herauf, ein stiller, stetiger. Nicht wenige Städte auf der Welt beanspruchten, die Stadt der Städte zu sein. Diese war es, jedenfalls für den Augenblick jetzt, und was gab es Herzhafteres als das Jetzt.
    Der Schauspieler bückte sich und knüpfte das Schuhband neu. Desgleichen zog er sich die Krawatte fest, benetzte mit der Zungenspitze den Zeigefinger und zog damit im Bogen die Krempe seines Bauernhuts nach. Desgleichen streifte er sich, vom Wald auf die Fahrstraße getreten, auf der Schwelle zur Stadt den Schlamm von den Sohlen – hüpfte und sprang von einem Bein auf das andre, wie man sich im Winter vor dem Betreten eines Hauses den Schnee abklopft –, und kratzte und rieb, mit dem Regenwasser aus einer Lache, die Waldschmutzflecken von seinem Anzug – anders als bei Rissen oder Fadenscheinigkeiten im Gewand war er seit jeher sehr heikel bei Flecken und dergleichen. Zuguterletzt stopfte er sich das Hemd sorgsam in den Gürtel und hatte dabei von sich das Bild, wie er in einer Filmszene einen standrechtlich zum Tod Verurteilten darstellte: der, vor den Erschießungspeloton getreten, in dunklerHose und weißem Hemd, stopfte sich das Hemd genauso in die Hose wie gerade er jetzt. Und jener zum Tod Verurteilte war nicht entflohen.
    Warum trat ihm so ein Bild dazwischen, in dem Moment, da er im Aufbruch hinunter und hinein in die große Stadt war? Nichts ging über solch eine Stadt. Keine Spur von Dunst. Die Luft schien unten in dem Flußbecken ebenso rein zu sein wie bei ihm auf dem Plateau. Keine Fabrikschlote zu sehen, schon seit langem nicht mehr, auch der täuschend helle Rauch aus den Müllverbrennungsanlagen: längst bereinigt. Und andere Abwesenheiten, die ihm noch gelegener waren: kein Grün sprang ins Auge zwischen all dem weitgewürfelten Weiß, keine Parks störten den Rhythmus. Und schon in der Kindheit – die hatte es bei ihm, trotz seiner Mutterlosigkeit, gegeben – waren Parks nichts für ihn gewesen. (Dagegen ein Wald, die Wälder!) Kein Park, recht so. Friedhöfe zu seinen Schuhspitzen dafür, recht so, noch und noch, klar auszumachen von Ost nach West, von Nord nach Süd, und in den Diagonalen, in dem wie unendlichen kleinteiligen Weiß Einschnitte eines noch kleinteiligeren Weiß, Fragmente eines den gesamten Erdkreis durchziehenden Kreuzes, des Südens und des Westens, des Nordens und des Ostens.
    Er zupfte sich das Hemd wieder aus dem Gürtel. Es hätte sich beim Gehen ohnedies bald von allein herausgebauscht und wäre ihm links und rechts über die Hüften gehangen. Kein Schreier mehr tätig im Wald hinten, oder er hatte kein Ohr mehr für ihn. Die ersten Schritte stadtein tat der Schauspieler wiederum rückwärts: seltsam, es war, als habe er ihn nicht gerade erst durchquert, sondern in einer unvordenklichen Zeit, oder überhaupt nie.
    Und ebenso gerade erst hatte die Stadt ganz

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