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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Ausdruck eines Beschwichtigenwollens. Das Erschrecken, das hilflose, und das Beschwichtigenwollen, das ebenso hilflose, brachten beide zusammen das Kindergesicht hervor. Da stand er und ließ sich sehen, in seinem Versuch der Beschwichtigung halb die Hände erhoben.
    Der Schauspieler, der darauf die Aktion abgebrochen hatte, ging zur nächsten über. Er führte dem andern das Balancieren vor, nicht auf dem Trimmpfadbalken, vielmehr auf einem im letzten Sturm entwurzelten Baumstamm gleich daneben. Nur war der Buschmann dafür nicht mehr empfänglich. Keine Spur mehr von dem Kindergesicht, überhaupteinem Gesicht. Das Balancieren des anderen, dabei doch so viel natürlicher als das gleichzeitig von einem der Trimmpfadbenutzer parallel auf dem erhöhten Balken hingetändelte: Kinderei (wenn er es denn zur Kenntnis nahm). Und als der Schauspieler draußen auf der Straße ging, schallte aus dem Busch schon wieder, und aus Leibeskräften, das »Halt’s Maul!« daher.

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    Das entfuhr auch ihm, unter dem freien Himmel, mit den ersten Schritten fern vom Wald. Sein »Halt’s Maul« kam fast unhörbar, und es war auch kein Nachahmen. Episodisch, wie oft, wurde und war er der andere, ohne sein Zutun. Wie man einmal gesagt hatte: »Sean Connery ist James Bond«, »Sylvester Stallone ist Rocky«, »Henry Fonda ist Young Mr. Lincoln«, »Peter Lorre ist M«, so konnte man von ihm sagen: »X ist der andere.« Und wieder paßte das mehr zu seinem Leben fern vom Film als zu seinen Rollen. Und der jeweils andere, das war nie und nimmer ein Glücklicher, oder ein Sieger, oder gar ein Triumphator, sondern in der Regel einer wie der gerade hier. Was ihn vor dem Absturz und vor dem Mitverlorengehen bewahrte: Zum anderen wurde er wiederum nur für jene eine Sekunde. »Bewahrt bis jetzt.« (Wieder er zu sich selber.)
    Als der andere war er blind – allerdings nicht taub – für die Weltstadt zu seinen Füßen und für die Horizonte, die fernen und fernsten, hinter welche sie sich dehnte und weiterdehnte. Der einzige Horizont waren die Schuhe an seinen Füßen. An dem einenwar das Schuhband aufgegangen, und als der andere würde er sich nie mehr bücken, es zu knüpfen. Im Sichweiterschleppen würde auch noch das zweite Schuhband sich lösen, und er würde es so lassen, bis er irgendwo über die Bänder fiele und kopfüber zu Boden krachte, zum Niewiederaufstehen. Als der andere spürte er die Schlüssel zu seinem Haus, zwei Flugstunden weg, als Fremdkörper in der Hosentasche und würde sie durch das nächstbeste Kanalgitter treten, zusammen mit den Kreditkarten und dem Mobiltelefon (»Schande, daß ich das Ding mit mir herumtrage, und außerdem macht es mir die Jacke schwer!«). Er würde die Jacke, samt Krawatte, ausziehen und über eine der Vorstadtgartenhecken schmeißen. Er würde sich überhaupt ganz nackt ausziehen und sich an einen Gehsteig-Hydranten setzen, mit nichts als dem kleinen Bauernhut und den Falkenfedern auf dem Kopf. Sogar der Gestank des anderen dort im Gestrüpp wäre auf ihn übergegangen und würde derart wüst von ihm wegpuffen, daß die Passanten – warum gab es da keine? – wie die Trimmläufer um den anderen einen Bogen um ihn Nackten machten.
    Der Schauspieler steckte die Hand in die Tasche nach seinem Schlüsselbund, und es fehlte wenig, und er hätte ihn tatsächlich in einen Gully oder ineine der auf Schritt und Tritt aufgereihten Vorstadtmülltonnen versenkt. Nur hatte er, wie seit jeher, schon vor seiner Fliesenlegerzeit, so viel Zeug in den Hosentaschen, daß er die Schlüssel lange nicht zu fassen bekam, und als er sie endlich hatte, kriegte er die sie umklammernde Hand erst nach einem ausgiebigen Zerren und Rucken wieder heraus, und da war die »Sekunde des andern«, wie er sie nannte, zu seinem Glück »wieso zu meinem Glück?« – vorbei, »in diesem Fall wenigstens«.
    Die in der Hosentasche gefangene Hand erinnerte den Schauspieler an das Buch, das er am Morgen im Haus der Frau gelesen hatte. Auch dem Helden jener Geschichte war, nachdem das Abenteuer mit dem Fassenwollen der ihm wieder entglitschenden Zitronenkerne so oder so überstanden war, draußen auf der Straße in ähnlicher Weise, beim Hineingreifen in die Tasche, für nichts und wieder nichts, die Hand darin steckengeblieben, und als der Leser ein paar Seiten danach das Buch zumachte, steckte die bewußte Hand immer noch in der bewußten Hosentasche. Und in der Folge kam dem Schauspieler der Film in den Sinn, der ab morgen hier quer

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