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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Füßen, sein konnte. Jedes Geräusch aus der Menschenwelt machte ihn aufschreien dagegen, gegen wen oder was? dagegen, dagegen, dagegen. Es war ein Aufschreien aus Pein, und mehr noch aus Wehrlosigkeit. Wehrlos, wehrlos,wehrlos. Und zugleich war er dem, was ihn peinigte, von Station zu Station waldauswärts auf den Leib gerückt, aus einem freien Entschluß, dem einzigen, der ihm noch offenstand.
    Die Station am Trimmpfad wäre nicht seine allerletzte. Von sich aus würde er den Platz nie mehr wechseln. Aber, herbeigerufen von der Eigentümervertretung der Waldrandbewohner, die sich von dem die Tage und Nächte durchgellenden Schreien behelligt fühlten, würde die berittene Waldpolizei ihn absetzen auf der erstbesten Straße am Waldrand. Und dort säße er mitsamt seinem Lumpenpack in einem Rinnstein oder wo, allen sichtbar, und würde so, nicht versteckt hinter den Büschen, das Schweigen bewahren. Kein Schrei mehr aus seiner Kehle, kein »Halt’s Maul!« mehr von seinen Lippen. Und eines Morgens oder eines Abends gäbe es auch ihn selber nicht mehr, sein Platz im Rinnstein, neben dem ersten Bankautomaten, leer. Und einigen der Einwohnerschaft würde der Schreier sogar fehlen. »Wo ist bloß unser Schreier geblieben?« werden die sich fragen. »Er wird doch wohl nicht aufgegeben haben? Er kann doch nicht einfach stumm verreckt sein!«
    Wie, des Schauspielers Blickbekanntschaft würde nie wieder von ihrem Platz inmitten des Trimmparcours aufstehen? Da stand er schon, und das war kein Aufstehen gewesen, sondern ein Aufschnellen. Der Schreier, er schnellte auf und stürzte sich auf das Trimmgerät am Waldwegrand. Wenn er im Sinn hatte, es umzuwerfen oder zu zerstören, so war er aber an das falsche Objekt geraten. Es war ein geschälter Baumstamm, dick, in Fastmeterhöhe auf ebenso dicke Pfosten geschraubt, zum Balancieren. Da gab es nichts zu schütteln, nichts zu rütteln. Obwohl er wieder und wieder dagegen anrannte, mit den Händen und den Schultern, danach mit Fußtritten, brachte er den Stamm nicht einmal zum leisesten Zittern. Das lag nicht nur an dem Gerät. Der Schreier – übrigens schrie er nicht mehr – attackierte es ohne Kraft, zunächst unklar, ob ihm die fehlte oder ob ihm nicht recht ernst war und er sich nicht ganz traute.
    Es wurde dann klar: Er gab nicht sein Letztes, er traute sich nicht. Er war und blieb das Muttersöhnchen – seiner Mutter Sohn. Und klar wurde das, als der Schauspieler aufhörte, sein Zuschauer zu sein, ebenfalls aufsprang und seinerseits gegen den Balancierbalken lospreschte, er freilich im Ernst. Die Wucht, mit welcher er, die Schulter voran, gegen dasRundholz rannte, war so groß, daß der Rückstoß ihn nach hinten zu Boden warf.
    Er richtete gleichfalls nichts aus. Trotzdem rappelte er, wieder nicht gespielt, sich auf und stürmte noch einmal los, und noch einmal. Der Schreier, er hatte, als sein früherer Bekannter anfing, ihm nachzutun, die Attacken sofort gestoppt. Er erstarrte mitten im Anlauf, und zugleich bekam sein Gesicht, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, einen Ausdruck.
    Der Schauspieler, indem er immer heftiger auf den Balken losfuhr, gewahrte das nur aus den Augenwinkeln, aber wie oft war gerade solcher Blick einer, dem etwas aufging. Was er sah, war das Kindergesicht des Waldmenschen, wie dieses nie gewesen war. Bei all den für die Gesellschaft Verlorenen, zu denen mein Schauspieler sich hingezogen fühlte, hatte er an ihre Gesichter von früher, aus deren Kindheit denken müssen, und noch keinmal war es ihm aber gelungen, sich einen von ihnen als das einstige Kind vorzustellen (bei den übrigen manchmal, wenn sie im Sterben lagen). Da nun war es, das Bild, und war schon wieder gewesen. Solch Kindergesicht ereignete sich an dem andern zum ersten Mal, selbst wenn der das gar nicht mitbekam. Oder doch?
    Es, das Gesicht, war zum Vorschein gekommen durch ein tiefes Erschrecken. Und erschrocken war der Buschmann über den neben ihm, dem es, anders als ihm, ernst war mit der Gewalt, mit dem Umstürzen des Trimm-dich-Balkens. So hatte er es nicht gemeint. Mit seinem Anrennen hatte er überhaupt nichts gemeint, und wenn, dann war ihm das im Erschrecken über den Ernst des Fremden entfallen. Er, der Waldtölpel, war unfähig zu gleichwelcher Gewalttätigkeit, und hatte niemandem ein Haar gekrümmt, und war vielleicht auch so zum Ausgestoßenen geworden. Und sein Erschrecken über den da, der die Gewalt in der Menschenwelt darstellte, ging Hand in Hand mit dem

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