Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Die Frau hieß bei ihm, seit Beginn, nur »die Frau« – was in seiner Herkunftsgegend bei den Männern ein Ausdruck der Ehrerbietung war, gewesen war, hatte sein können; und sein ferner Sohn war am heutigen Tag sein Sohn gewesen, oder auch nur »der Sohn«.
    Keine Reaktion von dem Angerufenen. Bestätigung dafür auf den in Frageform wiederholten Vornamen, mit dem Nachnamenzusatz, von der Mitsitzerin auf der Busbank, in einem Gemisch von mindestens drei Sprachen. Ja, das sei er. Und es sei vorbei mit diesem Andreas. »Der wird nicht mehr. Sagen Sie ihm, was Sie wollen: es kommt nicht an bei ihm. Es ist aus mit dem. Ende!« Und im Blick auf den andern kehrte dem Schauspieler, in wieder so einer Sekunde, die gemeinsame Zeit zurück: durch ihre so verschiedenartigen Berufe – nie hatte er sichals Nachbar oder Freund seinesgleichen vorstellen können – waren sie einander nähergekommen und gute Nachbarn geworden, was zeitweise genausoviel zählte wie eine Freundschaft. Er hatte sogar eine Verwandtschaft zu dem andern gespürt, und die wiederum verstärkt durch die Berufe, die nach außenhin kaum zusammengingen. Mit diesem Andreas hatte der Schauspieler sich eher am Platz gefühlt als in der Nachbarschaft von Leuten, die ihm vertraut waren aus seiner Kindheit, und das nicht nur wegen seines Vorlebens als junger Fliesenleger. Aber die sogenannten kleinen Leute, mit denen er umstandslos zurechtkam, schienen im Lauf der Jahre auszusterben. (Oder hatte es sie nie recht gegeben? Ja doch!) Und so ließ er sich, nach einem anfänglichen Widerstreben gegen den neuen Nachbarn, der in seiner Funktion als Wirtschaftsmann, wie ihm nachgesagt wurde, jemand nicht ganz Machtlosen darstellte, von demselbigen überraschen. »Er überrascht mich«, sagte er still zu sich selber, und derart konnte es zwischen den zweien gut weitergehen.
    Der andere, der erfahrene Wirtschafter, brauchte kein Überraschtwerden, um mit seinem Nachbarn, dem schon damals beachteten Schauspieler, einig zu werden. »Er war immer sofort mit mir einig.« Ganz ohne die Vorurteile gegen das Schauspielertum warAndreas. Er nahm den Beruf ernst, so wie er, nach Möglichkeit jedenfalls, alle Berufe ernst nahm, das gehörte zu seinem Wirtschaftertum. Zudem erwartete er jedesmal, wenn die beiden einander begegneten, etwas von dem Schauspieler, so als wisse der etwas, das er nicht wußte, etwas, das er für seine Arbeit brauchen konnte, und nicht nur brauchte, sondern benötigte, und das für sein Leben. Und dabei hatte er seinen Nachbarn noch keinmal spielen sehen, weder in einem Film, noch im Theater (da schon gar nicht). Er wußte bloß, wer der war, und ihn im Garten nebenan stehen, gehen und sitzen zu sehen, hatte ihm genügt und ihn auf die Sprünge gebracht.
    Mit der Zeit lud sich Andreas immer häufiger bei seinem Nachbarn ein. Er war fremd in jener Stadt wie er, der Schauspieler, und lebte allein; seine Frau arbeitete für dasselbe Unternehmen, aber in einem anderen Land, oder es gab vielleicht gar keine Frau: was er von ihr erzählte, war einerseits leibhaftig, andererseits märchenhaft. Gegen Ende ihrer Bekanntschaft wurden dem Schauspieler diese Besuche zunehmend unheimlich. Sein Nachbar kam mehr und mehr unangemeldet, stand meist gegen Mitternacht draußen vor der Gartentür und rief, ohne anzuläuten, ins Haus hinein, worauf sie einander lange stumm im Haus gegenübersaßen, der Schauspieler ingeduldigem Abwarten, der andere, mit jedem Abend inständiger und, so schien es, bedürftiger, wie vor einer Orakelstätte, aus der heraus, jetzt und jetzt, bitte, der Spruch tönen sollte, welcher ihm für seine Existenz, oder bloß für den folgenden Morgen, die Entscheidung abnähme.
    Jedesmal bei solchen vormitternächtlichen Besuchen rückte der Nachbar auf seinem Stuhl dem Schauspieler näher. Das wurde wie eine Bedrohung, und war doch nichts als eine wilde Ratsuche, zu sehen an den in der Nachtstille aufgerissenen Augen. Seine Ratlosigkeit war zu riechen, nah wie er war, ein Faulgeruch aus dem halboffenen Mund. »Einen Rat wußte ich ihm freilich nie, höchstens lenkte ich ab zu Belanglosigkeiten, zum Nachtwind in unser beider Gärten, zu einem blauen Ball in einer Astgabel, zu einem Vergleich zwischen dem Fassungsvermögen unserer Heizöltanks.« Bloß nicht vor ihm vom morgigen Tag sprechen, oder das Wort ›Zukunft‹ verwenden. Und eine Zeitlang hörte er sogar auf alle die Nebensächlichkeiten, nickte dazu, als seien sie das Orakel, bedankte sich und

Weitere Kostenlose Bücher