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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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nicht von der Stelle zu bewegen, kamen dann doch irgendwie vorwärts, fast unmerklich, in Abständen, zwischen denen ein nichtendenwollendes Stockenlag, ein Stocken, nach welchem es vielleicht nie mehr weiterginge, nirgendswohin. Und sie waren in den stillen Straßen schon von weitem zu hören gewesen, bevor sie sich dann, jetzt, sehr allmählich, nach und nach dann hatten sehen lassen. Zu hören freilich allein der Greis oder die Greisin, und allein an deren Dahintapsen, das durch die Stille schallte, als poltere da jemand dahin auf schwersten Bleisohlen, eher -klumpen, ein anderes Frankensteinisches Monster, ein wuchtiger King Kong.
    Ins Stocken gerieten die Paare, sooft er auf gleicher Höhe mit ihnen war, und das bewirkte der oder die. Eingehängt in den jungen Begleiter, oder eher von dem, von der, untergehakt, beschloß die, der Uralte beim Anblick des Entgegenkommenden, es sei genug – es sei außer Frage, weiter einen Fuß vor den andern zu setzen. Es war das ein Beschluß, und es war der einzige, zu dem sie noch imstande waren, und fast eine Fröhlichkeit begleitete ihn. Hatten sie die paar Schritte vorher, welche eher ein wie erzwungenes Trippeln waren, noch eine durch und durch unwillige Miene aufgesetzt, wenn überhaupt eine, so strahlten sie jetzt, im Niemehrvomfleckwollen, ihn, den Dritten, an, so frech und keck, wie man nur angestrahlt wurde von ganz Alten, Hilflosen, dumpf Verzweifelten, die endlich, auf einmal hell entschlossen wie noch nie, die Lösung gefunden hatten, die alleinige und die letztmögliche. Ja, sie würden, ab jetzt und ab hier, keinen Fuß mehr rühren, weder zum Weiter- noch zum Heimgehen, wo immer das war – es war ihnen ohnedies entfallen, wie all das Übrige. Ihr Beschluß war möglich geworden durch ihn, den einzigen Einzelpassanten sonst in den nur von Paaren ihresgleichen bevölkerten und sonst verlassenen Sommerstraßen, die sämtlich Seitenstraßen zu Seitenstraßen zu wiederum Seitenstraßen bildeten. Und er war der Zeuge für ihren Beschluß. Ihre Blicke auf ihn, aus den Tiefen strahlend, waren zusätzlich die von Schelmen, die sich, beim Himmel oder wem, für ihren Schelmenstreich – ab hier nicht mehr weiter! – entschuldigten, eher bloß so taten.
    Sooft er nach ihnen zurück über die Schulter blickte, hatten sie sich doch von den jungen Begleitern zum Weitertrippeln, -schlurfen, -hoppeln bewegen lassen. »Noch ein paar Schritte, und jetzt noch einen Schritt für … und jetzt einen für …, und einen für …« Und während er im Zickzack weiterging, sich zeitweise vom Zentrum entfernte, in jeder Straße wieder solch ein Paar, der greise Teil, wenn nicht stumm, so schon von weitem hörbar zwischen Greinen und Wimmern, die Jungen gut zuredend, auf die Armband und sonstigen Uhren äugend, zuletzt befehlend, sehroft mit einem kaum verständlichen Akzent oder in einer sehr fremden Sprache.
    Eines der Paare traf der Schauspieler sitzend an, auf der Bank einer sonst, wie konnte das anders sein, leeren Bushaltestelle. Er hielt die zwei zuerst für Wartende und grüßte sie im Vorbeigehen. Erst als keine Antwort kam, auch keine beim wiederholten Gruß, stutzte er und schaute näher hin. Da saß, auf einer Rast während des stunden- oder wochenlangen Rundenziehens um die stillen Stadtrandhäuser, noch so ein Paar, ein eher untypisches. Der »Uralte«, ein Mann, war gar nicht so alt, hatte dunkles Haar mit nur ein paar grauen Strähnen und ein glattes Gesicht, leicht gerötet, was vielleicht von Medikamenten kam, während die »Junge«, eine Frau, kaum jünger schien als er, in einem Kleid aus einem Stoff, wie ihn dazulande fast nur die aus den ärmsten Ostländern Dazugestoßenen trugen, zudem schmutzig, was dem Schauspieler, siehe oben, sofort ins Auge sprang, wie auch die Warzen in ihrem Gesicht, und die da herauswachsenden Haarbüschel.
    Ungegrüßt wegschauen und weitergehen, es gab da nichts zu sehen. Und zugleich wurde ihm bewußt, daß er den, der auf der Busbank hockte und durch ihn, und nicht bloß durch ihn hier, durchstarrte,kannte. Das wußte er in einem Nu, so klar, wie nur bei einer nie und nimmer für möglich gehaltenen Sache. Der Fremde da, im fremden Land, war einmal, in ihrer beider gemeinsamem Land, sein Nachbar gewesen, ein guter. Fast ein Freund. Ein Freund. Mit einem Ausruf zu dem herumgefahren, mit dem Ausruf seines Vornamens: »Andreas!« – der erste Name für eine Person, der dem Schauspieler an jenem Tag über die Lippen und in den Sinn kam.

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